Praxisbericht Arbeitsmedizin: Dr. Stefan Fricke Flughafen München

Leiter Arbeitsmedizin Flughafen Muenchen
Dr. Stefan Fricke

Wie sich die große Leidenschaft zur Fliegerei mit der Affinität zu präventiver Medizin wunderbar vereinbaren lässt

In unserer Serie Praxisbericht „von Experten für Experten“ stellen wir heute Dr. Stefan Fricke, Jahrgang 1959 und Facharzt für Allgemeinmedizin sowie Arbeitsmedizin vor. Schon von Kindesbeinen an verspürte er eine große Affinität zum Fliegen. Als Sohn eines Medizinerhaushalts war aber klar, dass er Medizin studieren würde. Um diese beiden Themen zusammenzubringen ging er zur Bundeswehr und absolvierte dort sein Studium.

Vor allem mit dem Ziel, sich dort auf den Bereich Flugmedizin zu spezialisieren. So war es dann auch. Als Sanitätsoffizier war er im Flugmedizinischen Dienst tätig und hat zeitweise Jetpiloten bei der Luftwaffe betreut. Anschließend folgten Stationen wie die väterliche Praxis, BMW und Flughafen München, wo er noch heute als ärztlicher Leiter den arbeitsmedizinischen Dienst verantwortet.

Wie kam es, dass Sie Arbeitsmediziner wurden? Was war der entscheidende Auslöser für Sie, das Fachgebiet Arbeitsmedizin zu wählen?

Für mich war immer klar, dass ich Prävention machen möchte. Im Grunde genommen, bin ich als Flugmediziner bei der Bundeswehr nichts anderes gewesen als eine Art spezialisierter Arbeitsmediziner. Das war mehr oder weniger die gleiche Tätigkeit, wenngleich auch für einen sehr eng begrenzten Rahmen. Und zwar für fliegendes Personal bzw. Leute, die im Flugsicherungskontrolldienst arbeiten. Gerade die Piloten sind bekanntermaßen kerngesunde Menschen, die durch ein ganz enges medizinisches Netz schlüpfen müssen, um überhaupt diesen Beruf ausüben zu können .

Das ist bei der Bundeswehr genauso wie z.B. bei der Lufthansa?

Ja genau. Fast sogar noch ein bisschen strenger, weil es bei der Luftwaffe, im Vergleich zur normalen Airline, das Thema der Fliehkräfte gibt. Wenn Sie beispielsweise einen normalen Passagierflieger mit hohem Tempo eng um die Kurve fliegen würden, würde es wahrscheinlich anschließend eine ordentliche Anzahl von Passagier-Beschwerden hageln. Das ist nämlich nicht so furchtbar angenehm. Beim Militärjet kann darauf natürlich keine Rücksicht genommen werden. Ganz im Gegenteil. Die Piloten müssen sogar sehr enge Kurven fliegen. Naturgemäß entstehen dabei enorme Fliehkräfte.

Diese präventive Arbeit hat mir damals schon sehr großen Spaß gemacht. Vor allem, top gesunde Leute trotz diverser Belastungsfaktoren auf einem hohen gesundheitlichen Level zu halten.

„Wechsel in die väterliche Praxis“

Dennoch bin ich dann „gezwungenermaßen“ aus der Bundeswehr ausgeschieden, weil es Pläne gab, mich ins Ministerium an den Schreibtisch zu versetzen. Das hat mich nicht begeistert, so dass ich die Bundeswehr verlassen habe. Statt zum Papiertiger zu mutieren, habe ich stattdessen 1993 die väterliche Praxis für Allgemeinmedizin übernommen.

Mit diesem Schritt vollzog sich für mich ein Wechsel, weg von der präventiven hin zur kurativen Medizin. Meine Aufgabe bestand darin, Leute die krank geworden waren, wieder gesund zu machen. Verstehen Sie mich nicht falsch, auch das war bis zu einem gewissen Grad nicht uninteressant. Zudem wir damals in den Praxiszeiten, relativ erfolgreich, präventive Aspekte mit aufgenommen haben, denn die Prävention hat mich nie ganz losgelassen.

Nichts desto trotz habe ich im Laufe der Zeit immer stärker gemerkt, dass ich es sinnvoller finde, im Vorfeld dafür zu sorgen, dass die Menschen gar nicht erst krank werden. Anstatt hinterher, wenn sie dann doch krank geworden sind, zu versuchen, sie möglichst schnell wieder auf die Beine zu bekommen.

So wechselte ich 2011 in den werksärztlichen Dienst zu BMW. Und zwar nach Dingolfing ins größte BMW Werk Deutschlands. Ich war wirklich sehr froh, wieder ganz regulär in der Arbeitsmedizin tätig zu sein und meine arbeitsmedizinische Ausbildung vervollständigen zu können.

2016 ging ich in der Funktion als ärztlicher Leiter des arbeitsmedizinischen Zentrums dann zum Flughafen München. Das Zentrum ist Teil der MediCare Flughafen München Medizinisches Zentrum GmbH. Die MediCare fußt auf verschiedenen Bereichen. Dazu gehört auch die Notfallmedizin, die sämtliche Notfälle am Flughafen, sowohl für Passagiere als auch für Mitarbeiter, versorgt und abdeckt. Darüber hinaus gehört eine Klinik dazu, zu der es aber für uns als Arbeitsmediziner keine weiteren Berührungspunkte gibt.

Was genau ist Ihr „Auftrag“ als leitender Arbeitsmediziner beim Flughafen München?

Mein Auftrag ist die umfängliche arbeitsmedizinische Betreuung, die über das Arbeitssicherheitsgesetz geregelt ist. Gemeinsam mit meinem Team – ich leite ein Team von sieben Ärzten und neun Assistenzdamen und einem Herrn – bestehen unsere Aufgaben im Wesentlichen in der Beratung, Durchführung von Vorsorgen und Eignungsuntersuchungen. Wir beraten den Arbeitgeber zu Themen, wie Arbeitsplatzgestaltung, Unfallvermeidung, Organisation der Ersten Hilfe und ähnlichen Dingen. Der vorletzte Punkt wird allerdings sehr häufig auch von der Notfallambulanz übernommen.

Zudem machen wir sämtliche Vorsorgen. Es gibt hier eine ganze Reihe von Vorsorgen, die nach der arbeitsmedizinischen Vorsorgevorschrift oder ArbMedVV durchzuführen sind. Hier schauen wir, ob der Job für den Mitarbeiter geeignet ist und kein gesundheitliches Risiko darstellt. Eine der wichtigsten ist zum Beispiel die Vorsorge „Lärm“. Bei uns am Flughafen gibt es naturgemäß einen großen Bereich, der als Lärmbereich deklariert ist, nämlich überall dort, wo Flugzeuge rollen oder auch stehen und geparkt werden.

Auch Eignungsuntersuchungen gehören zu unserem Aufgabenfeld. Grundlage dieser Untersuchung ist eine gesetzliche Vorgabe, die konkret besagt was untersucht werden muss. Im Ergebnis wird beurteilt, ob der Mitarbeiter für den Job geeignet ist oder eben auch nicht.

Unsere Zuständigkeit erstreckt sich auf die Flughafen München Gesellschaft (FMG) sowie den dazu gehörenden Tochterunternehmen. Darüber hinaus betreuen wir als externer Dienstleister einige Firmen, die hier am Flughafen sitzen oder auch in der unmittelbaren Nachbarschaft, aber nicht direkt der Flughafen München Gesellschaft oder den Töchtern angehören.

Um welche Mitarbeiter und Jobs handelt es sich hier? Wie muss ich mir das vorstellen?

Mal abgesehen davon, dass wir hier am Flughafen über 50 Nationen beschäftigt haben, finden Sie im Grunde genommen bei uns fast jeden Beruf. Angefangen bei den Kollegen von der Flugzeug- und Gepäckabfertigung, über Schreiner, KFZ Mechaniker oder auch Elektriker. Darüber hinaus gibt es bei uns Leute, die sich mit Heizungstechnik beschäftigen, nicht zuletzt auch, weil wir hier am Flughafen ein eigenes, kleines Kraftwerk haben. In der Cargo, sprich in der Luftfracht, gibt es sogar Tierpfleger für die Tiertransporte und natürlich haben wir auch Tierärzte. Die größte Überraschung ist wahrscheinlich unser Jäger, der das Flughafengelände betreut. Nicht zu vergessen sind die Jobs, die die Gastronomie und der Einzelhandel mit sich bringen. Der Großteil der Shops und Restauration gehören zum Flughafen München oder einer der Tochtergesellschaften. Der Flughafen München ist der einzige Flughafen weltweit mit einer eigenen Brauerei. Zudem verfügen wir über eine Film- und Medienproduktion.

WOW – wir hätten eher gedacht, dass es sich bei den Shops um ein Vermietungsgeschäft handelt.

Die Shops gehören uns, aber wir nutzen als Lizenznehmer die Lizenzen der Marken. Wir haben noch relativ viele solcher Markenshops. Aber ich habe gehört, dass es eine Tendenz gibt, zukünftig weniger Marken isoliert anzubieten, sondern diese zu mischen und folglich mehrere Marken in den Shops anzubieten. Das ist aber Zukunftsmusik.

Wie spannend muss es für einen Arbeitsmediziner sein, als Mediziner sogar auch in strategische Themen, wie Vertriebskonzepte oder Organisationsstrukturen, eingebunden zu sein. Oder?

Jawoll. Aber das sind ja auch Themen, die die Mitarbeiter beschäftigen und im Alltagsgeschäft berühren. Das geht bei den Schichtdiensten los. Der Flughafen hat praktisch nie Pause. Er ist 24 Stunden an 365 Tage im Jahr im Betrieb. Die einzige Ausnahme ist der Flugbetrieb selbst, der zwischen 24 Uhr und 4 Uhr morgens ruht. Aber auch dann ist der Flughafen wach. Diese vier Stunden werden dazu genutzt, Gepäckbänder oder Außenanlagen zu reparieren, die dem laufenden Flughafen Betrieb dann wieder zur Verfügung stehen müssen. Auch das Thema Sicherheit, die 24-Stunden Bewachung ist bei uns natürlich ein großes Thema.

Sie beraten in dem Fall dann aber auch die Mitarbeiter selbst, oder?

Tatsächlich ist in den letzten Jahren das Bedürfnis nach Beratung bei den Mitarbeitern erheblich gestiegen. Die Kollegen kommen jetzt auch zu uns, wenn sich, zum Beispiel aufgrund betrieblicher Umstrukturierungen, ihre Arbeitsplatzsituation ändert oder gesundheitliche Probleme auftauchen. Dann möchten sie von uns wissen „kann ich meinen Job noch machen?“ oder „was mache ich denn, wenn ich aus gesundheitlichen Gründen meinen Job nicht mehr ausüben kann? Verliere ich dann meinen Job oder findet ihr eine andere Stelle für mich?“ Wir beraten dann, welche Optionen es für denjenigen gibt. Sprich, was kann der Mitarbeiter leisten? Denn nur so hat der Arbeitgeber eine Chance zu schauen, welche Stelle für den Mitarbeiter passen könnte.

Ich habe heute im Radio gehört, dass es eine Veröffentlichung der Krankenkassen gibt zum Thema „Fehltage im Job aufgrund psychischer Erkrankungen haben enorm zugenommen“. Können Sie das auch bestätigen?

Ja, das sehen wir auch. Heutzutage gibt es eine erhebliche Verdichtung an Informationen, Arbeit und ähnlichem. Überlegen Sie, wenn Sie früher mit jemandem kommunizieren wollten, haben Sie ihm einen Brief geschrieben, der ihn nach zwei Tagen erreicht hat. Dann musste der Adressat ein Antwortschreiben verfassen und es dauerte wieder zwei Tage bis die Antwort da war. Wenn es gut lief, sprechen wir hier von roundabout vier Tagen. Heutzutage schreiben Sie eine Mail und wenn Sie nicht innerhalb einer halben Stunde eine Antwort bekommen haben, werden Sie schon kribbelig. Das ist schon mal der erste Punkt.

Der zweite Punkt ist die enorme Arbeitsverdichtung. Es gibt immer mehr Aufgaben, die aus Kostendruckgründen von immer weniger Personal bewältigt werden müssen. Da fällt natürlich auf den einzelnen immer mehr Arbeit zu. Dieser Trend ist überall zu beobachten.

Und als dritten Effekt und das ist auch dass, was ich als größte Herausforderung sehe, ist zusätzlich die demographische Entwicklung. Die Menschen werden älter, folglich steigt auch das Durchschnittsalter der Mitarbeiter entsprechend kontinuierlich an. Das ist gerade für die Mitarbeiter aus dem Schichtdienst problematisch. Wer 20-30 Jahre konsequent im Schichtdienst gearbeitet hat, ist natürlich bei weitem nicht mehr so belastbar und hat viel eher mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, als z.B. Bürokräfte.

„Verändertes Anspruchsdenken der Passagiere trägt zur steigenden Belastung bei“

Nicht zu vernachlässigen ist aber auch die veränderte Situation unserer Mitarbeiter im Kundenkontakt. Heutzutage ist Reisen für jedermann erschwinglich geworden. In der Konsequenz gibt es einen enormen Zuwachs an Passagieren pro Tag am Flughafen. Und die Ansprüche sind mitgewachsen. Die Passagiere erwarten, dass sie auf Fragen sofort eine Antwort bekommen. Da möchte niemand darauf warten müssen, dass der Befragte erst einmal sein dickes Buch aufschlägt und nachschaut, wie er die Frage bestmöglich beantworten kann. Gefordert sind hier Ausdauer und ein hohes Maß an Belastbarkeit, wenn die Fragen-Bombardements der Passagiere, fast im Sekundentakt, auf sie einstürmen. Das ist etwas, was die Leute psychisch enorm strapaziert.

Und dann kommen auch noch die ganzen Technologien dazu, mit denen man sich ja auch erstmal auseinandersetzen muss – das iPad, in welcher Form auch immer eingesetzt, ist wahrscheinlich ein stetiger Begleiter, denke ich mal.

Das stimmt. Wer damit umgehen kann, profitiert unter Umständen, weil sehr schnell Informationen verfügbar sind. Also ich habe auch immer mein I-Phone dabei, auf dem ich diverse Informationen gespeichert habe. Denn auch mir passiert es häufiger, dass ich in meiner Arbeitsbekleidung und mit meinem umgehängten Flughafenausweis durch die Halle marschiere, leicht zwei- bis dreimal angesprochen werde. „Ach, Sie kennen sich doch sicherlich hier aus. Wo muss ich denn da und dort hin?“ Jetzt weiß ich natürlich auch nicht, wo sich jeder einzelne Abfertigungsschalter befindet. Dafür ist unser Bereich einfach zu groß. Dann kann ich auf meinem Handy die Informationen schnell abrufen und Hilfe geben.

Aber nicht jeder bei uns hat diese Affinität zur Technik. Gerade die älteren Mitarbeiter tun sich oftmals schwer, diesen notwendigen Anpassungsprozess zu durchlaufen. Ganz anders ist das natürlich bei der jungen Generationen, die Digital Natives. Die können sich ein Leben ohne Smartphone gar nicht vorstellen. Wenn man erzählt, dass es eine Zeit vor dem Handy gab, werden Sie angeguckt, als ob Sie aus dem vorletzten Jahrhundert stammen.

Welcher besonderen Herausforderung sehen Sie sich in einem Flughafen konfrontiert?

Wir haben am Flughafen viele körperlich hochbelastende Tätigkeiten, vor allem im großen Bereich des Gatesystems. Dort findet die Be- und Endladung des Gepäcks statt. Für die großen Flugzeuge arbeiten wir zwar mit einer Containerbeladung. Aber auch der Container muss ja zunächst einmal mit jedem einzelnen Koffer beladen werden.

Bei den kleineren Flugzeugen sieht es schon anders aus. Hier wird wirklich jeder einzelne Koffer händisch im Flugzeug gestapelt und verstaut. Der Loader muss dabei, je nachdem, um welchen Teil des Flugzeugs es sich handelt, teilweise auf den Knien und mit eingezogenem Kopf die Gepäckstücke anfassen und einladen. Das ist eine enorme Belastung, denn neben der unangenehmen Zwangshaltung müssen Gewichte im Durchschnitt zwischen 20 und 25kg angehoben werden. Um eine Hausnummer zu nennen, kann man sagen, dass ein Gepäckabfertiger in einer Schicht rund 800 Koffer oder umgerechnet round about 19 Tonnen stemmen muss. Da muss ein Körper schon eine gewisse Fitness aufweisen.

Betriebliches Gesundheitsmanagement als Fitnessbringer

Um die Kollegen an dieser Stelle fit zu halten, wurde der Bereich „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ eingeführt. Diese Abteilung ist direkt in die Flughafengesellschaft integriert und ausgezeichnet aufgestellt. Dort gibt es beispielsweise präventiv wirkende Sportangebote extra für die Gepäckabfertiger inkl. einer physiotherapeutischen Betreuung. An dieser Stelle arbeiten wir ganz eng mit dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) zusammen. Gemeinsam entwickeln wir Fitness Angebote um dauerhaften Schäden vorzubeugen. Die Sportwissenschaftler setzen dabei den speziell sportwissenschaftlichen Fokus und wir liefern den medizinischen Input.

Das Trainingsprogramm wird beispielsweise an Chipgesteuerten Trainingsgeräten durchgeführt. Dort steckt der Mitarbeiter einfach seine persönliche Chipkarte rein und das Gerät stellt sein individuelles Trainingsprogramm automatisch ein. Natürlich wird das Programm zu Beginn gemeinsam mit dem Physiotherapeuten installiert. Danach kann der Mitarbeiter dann quasi autark mit seiner Chipkarte jederzeit trainieren. Es gibt Bestrebungen bei uns, den Mitarbeitern anzubieten, auch während der Schicht trainieren zu können – quasi während der Pause. Alternativ gibt es auch Gedanken, dass der Mitarbeiter – einmal am Tag – anstelle einen Flieger abzufertigen, zum Training geht und was für seinen Körper tut.
Das ist allerdings in Planung und noch nicht spruchreif. Das sind Ideen, mit denen wir uns aktuell beschäftigen. Längst ist erkannt, dass es am Ende auch finanziell günstiger ist, dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter gar nicht erst krank werden. Damit vermeidet der Arbeitgeber die Situation, einen kranken Mitarbeiter bezahlen zu müssen. Und sich gleichzeitig um einen anderen Kollegen kümmern zu müssen, der für den Kranken einspringt.

Veraltetes Image Arbeitsmedizin bei Arbeitgebern

Eine weitere Herausforderung, die ich nicht unerwähnt lassen möchte, ist das immer noch althergebracht herrschende Image der Arbeitsmedizin – insbesondere bei den Arbeitgebern. Heute muss man sich als Arbeitsmediziner positionieren und Überzeugungsarbeit leisten. Und zwar weg von dem Ansatz „Den muss ich halt haben, der kostet mich Geld“, hin zu „er bringt mir großen, auch finanziell messbaren Nutzen“. Das heißt, wir müssen dem Auftraggeber immer wieder erklären: „Lieber Arbeitgeber, ich kann dir wirklich von Diensten sein. Weit über das Impfen und die gesetzlichen Vorgaben hinaus.“ Präventionsarbeit ist eine lohnende Investition in die Mitarbeiter und damit auch ins Unternehmen.

Ökologische Nischen

Und die letzte Herausforderung, die mir noch einfällt ist die, dass aufgrund zunehmenden Kostendrucks ökologische Nischen wegbrechen bzw. wegrationalisiert werden. Ökologische Nischen sind für mich schonende oder sehr schonende Arbeitsplätze für Mitarbeiter, die nach 30-35 Jahren ihren eigentlichen Job aus Gesundheitsgründen nicht mehr bewältigen können. Die ökologischen Nischen bieten diesen Arbeitnehmern die Möglichkeit, ihr Leitungsvermögen vernünftig und entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation, entfalten zu können, ohne dass man Gefahr läuft, sie zu überlasten oder fehl zu belasten. Gerade bei einer immer älter werdenden Belegschaft, die mit zunehmendem Alter nicht unbedingt gesünder wird, ist die Entwicklung der Rationalisierung m.E. ziemlich kontraproduktiv.

Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, zwei Mitarbeiter auf eine Stelle zu setzen. Aber man darf hier nicht vergessen: gerade bei Umstrukturierungen geht es häufig primär darum, eine Rationalisierung vorzunehmen. Und dann fallen solche Nischen einfach weg. Wenn dann ein Mitarbeiter aufgrund von Rücken, Knie- oder auch Hüftproblemen dauerhaft aus dem Gepäckfertigungsbetrieb herausgenommen werden muss, stellt sich die Frage: „Was machen wir nun mit ihm“?

Das sind alles Themen, auf die ich die Geschäftsführung hinweisen muss. Hier habe ich ganz klar eine Beratungsfunktion inne, in der ich Empfehlungen ausspreche. Denn trotz allem Kostendruck muss überlegt werden, ob es am Ende nicht günstiger für das Unternehmen ist, einige, kleine ökologische Nischen zu lassen. Denn irgendwo müssen die Leute ja bleiben. Die Alternative wäre, sie finanziell abzufinden und sie zu entlassen. Dann allerdings könnte es passieren, dass sie an anderer Stelle fehlen.

Gibt es inhaltliche Berührungspunkte in der Zusammenarbeit mit den jeweiligen Airlines?

Teilweise. Wir übernehmen beispielsweise für verschiedene Airlines die Untersuchungen von Kabinenpersonal, sprich von Flugbegleiterinnen und -begleitern. Diese müssen sich regelmäßig einem sog. Medical Check – einer Tauglichkeitsuntersuchung unterziehen. Um auch Verkehrspiloten untersuchen zu dürfen, benötigt man eine fliegerärztliche Untersuchungsstelle der Klasse 1, die ich seit Anfang des Jahres hier am Flughafen München habe.

So sind wir also auch in der Lage, Verkehrspiloten, also Piloten der Airlines, zu untersuchen und ihnen ihre Flugmedizinische Untersuchung angedeihen zu lassen. Die Großairlines, wie beispielsweise die Lufthansa, haben allerdings ihren eigenen Dienst, über den sie die Checks abwickeln. Es ist jedoch nicht so, dass die Lufthansa einen externen Arztbesuch verbietet. Wenn jemand zu einem anderen Arzt gehen will, dann darf er das tun. Bei kleineren Airlines hingegen, lohnt es sich in der Regel nicht, einen eigenen Dienst zu betreiben. Viele lehnen sich in dem Fall dann gern an den Lufthansa Standort an.

Es gibt aber durchaus auch Airlines, die einen eigenen Fliegerarzt präferieren, ihn aber nicht selber anstellen wollen. Dieser wird dann als Dienstleister eingekauft. In dem Moment wird’s für uns interessant. Vor allem, weil wir zukünftig das Komplettpaket anbieten können – von der Arbeitsmedizin bis hin zur Flugmedizin.

Last but not least machen wir seit 2017 bei der einen oder anderen Airline die sogenannten ADM Kontrollen (Alkohol – Drogen – Medikamente). Das sind die Kontrollen, die unangekündigt und auch verdachtsunabhängig bei einem gewissen prozentualen Anteil der Cockpit Besatzung durchgeführt werden müssen. Vor Flugantritt wird kontrolliert ob sie unter dem Einfluss von Alkohol oder irgendeiner Form psychoaktiven Drogen stehen. Diese Kontrollen sind über das Flugsicherheitsgesetz vorgeschrieben. Das ist eine Konsequenz aus der schrecklichen Geschichte, als der Pilot damals in Frankreich in die Berge geflogen ist. Diese Kontrollen haben wir in München bereits für die eine oder andere Airline durchgeführt und möchten das Thema in den nächsten Jahren gern weiter ausbauen.

Wie schätzen Sie das Berufsbild heute und in der Zukunft ein? Was läuft schon gut? Woran sollte Ihrer Meinung nach noch gearbeitet werden. Was sind die entscheidenden Parameter?

Arbeitsmediziner sind nach wie vor Mangelware. Es gibt eine große Anzahl älterer Kollegen, die zeitnah in den Ruhestand gehen werden. Gleichzeitig fehlte es eine Zeitlang an Nachwuchs. Diese Situation liegt klar auf der Hand. Wir bekommen zum Beispiel einmal pro Woche per Email eine Anfrage von Unternehmen, ob wir sie mitversorgen könnten. Ihr Arbeitsmediziner würde in Kürze in den Ruhestand gehen und sie suchen händeringend Ersatz.

Arbeitsmedizinische Dienstleistung für andere muss sich wirtschaftlich lohnen

Leider können wir das nicht liefern. Unsere primäre Aufgabe ist es, die Versorgung am Flughafen sicher zu stellen. Alles andere kommt danach. Wenn dann noch das eine oder andere aus betriebswirtschaftlicher Sicht lohnende Unternehmen dazu kommt, ist das ok. In erster Linie muss ich aber die Interessen des Flughafens vertreten. Wenn ich mich nach außen hin verzettle und meine Arbeit für den Flughafen dadurch plötzlich ins Hintertreffen gerät, wird mir der Flughafen, als die Institution, die uns im Wesentlichen bezahlt, zu Recht auf die Füße treten. Deswegen muss ich da sehr aufpassen. Wenn aber eine größere Firma die Dienstleistung abfragt, bei der ich abschätzen kann, dass es sich wirtschaftlich im Sinne einer zusätzlichen Einnahme lohnt und wir das erforderliche Volumen auch erbringen können, kann ich das gegenüber dem Flughafen gegenüber durchaus begründen und rechtfertigen. Dann geht der Flughafen auch mit. Wir brauchen ein bestimmtes Volumen, damit es sich rechnet.

Arbeitsmedizin liegt bei Ärzten im Trend

Es scheint aber seit einiger Zeit so zu sein, dass der Nachwuchs rasant wächst. In unserem Team gibt es einen Weiterbildungsassistenten, der bereits Facharzt für Allgemeinmedizin ist und der jetzt die Weiterbildung Arbeitsmedizin macht. Der hatte jetzt tatsächlich ein Problem, einen Platz im Arbeitsmediziner Kurs zu bekommen, weil alles ausgebucht war. Das heißt, wir sehen, dass jetzt Nachwuchs kommt. Und zwar relativ kräftig. Das liegt m.E. zum einen daran, dass sich in den letzten Jahren eine Imageveränderung vollzogen hat und zum anderen ist der Job als Arbeitsmediziner auch durchaus attraktiv.

Es ist allgemein bekannt, dass die Ärzte in den Kliniken aufgrund von Personal und sonstigen Sparmaßnahmen inzwischen ziemlich „verheizt“ werden – zumindest haben viele das Gefühl, dass es so ist. Die Arbeitsmedizin hingegen bietet relativ gute Bedingungen, verbunden mit vernünftigen Arbeitszeiten. Wir haben hier am Flughafen zum Beispiel den Luxus, dass wir weder Nacht- noch Wochenenddienste machen müssen. Das ist natürlich schon sehr kommod. Wenn Ihnen also ein relativ geregelter Job wichtiger ist, als die Möglichkeit über Schicht-, Nacht- oder auch Notdienste das Gehalt aufbessern zu können, dann sind Sie bei der Arbeitsmedizin genau richtig. Genau das ist m.E. der entscheidende Aspekt, der zunehmend auch jüngere Ärzte in die Arbeitsmedizin treibt. Ganz oft hört man von den Kollegen, dass sie in der Klinik zwar mehr Geld verdienen, aber gar keine Zeit haben, es auszugeben. Dass sie nicht aus der Klinik kommen, weil es dort an allen Ecken und Enden brennt und man mit der Versorgung nicht mehr hinterher kommt. Diese Knochenarbeit wollen sie sich nicht mehr weiter antun. Sie wollen zwischendurch auch mal leben, abends gemütlich mit den Kumpels zum Sport oder einfach ins Kino gehen können.

Interessanterweise bekommen wir auf ausgeschriebene Stellen immer öfter auch Anfragen von älteren Facharztkollegen, die zum Beispiel als Oberarzt in der Klinik tätig sind. Die sagen mir ebenfalls, dass es ihnen in der Klinik mittlerweile einfach zu stressig ist und sie in die Arbeitsmedizin wechseln möchten.

„Die Denke und Einstellung hat sich generell verändert“

Auch die Arbeitgeber spüren zunehmend den Nutzen, den die Arbeitsmedizin mit sich bringt. Vor allem, wenn sich die Maßnahmen nicht auf die gesetzlichen Vorgaben beschränken. Nämlich dann, wenn der verantwortliche Arbeitsmediziner seinen Job als Berater ernst nimmt und sich aktiv einbringt und der Unternehmensführung seinen Support anbietet. Wird er zum Beispiel von Beginn an bei Planungen von neuen Strukturen mit ins Boot geholt, kann er gleich sagen, ob das mit den Leuten geleistet werden kann. Und falls nicht, wie es vielleicht alternativ gehen könnte.

Wenn ich als Arbeitsmediziner die geplante Struktur kenne, dann bin ich als derjenige, der die körperlichen Fähigkeiten der Mitarbeiter am besten einschätzen kann, in der Lage zu beurteilen, wer sich für welchen Job eignet. Unter Umständen können Mitarbeiter auf einer Stelle eingesetzt werden, die trotz gesundheitlicher Einschränkungen den notwendigen Leistungsgrad entwickeln können, weil es praktisch ihrem Leistungsprofil entspricht. Das verstehen inzwischen viele Arbeitgeber und bitten uns als Arbeitsmediziner um Mithilfe, Mitarbeiter so einzusetzen, dass sie dem Unternehmen unterm Strich auch nützlich sind, wenn sie nicht mehr voll leistungsfähig sein können. Das wurde mittlerweile verstanden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Arbeitnehmer Mangelware sind. Hier am Flughafen werden händeringend zum Beispiel Gepäckabfertiger gesucht. Auch die Gastronomie leidet extrem unter Fachkräftemangel. Auf jedem unserer Kassenbons ist zu lesen „wir suchen Mitarbeiter, wenn Sie Interesse haben, melden Sie sich“. Das heißt, der Mitarbeiter, der an Bord ist, wird immer wichtiger für das Unternehmen.

Woran sollte Ihrer Meinung nach bei Ihnen im Unternehmen noch gearbeitet werden?

Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass wir bei zukünftigen Strukturplanungen stärker mit eingebunden werden. Und zwar deshalb, weil wir wichtige Informationen liefern können, welche Mitarbeiter an welcher Stelle geeignet und an welcher Stelle sie ggfs. weniger geeignet sind.

Was empfehlen Sie Kollegen, die über den Schritt nachdenken, in die Arbeitsmedizin zu wechseln?

Frei nach Goethe: tun!

Einfach deshalb, weil es ein hochspannendes Fach ist, welches sich dauerhaft weiter entwickelt und viel Gestaltungsspielraum bietet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es unheimlich befriedigend ist, Menschen dabei zu unterstützen, gesund zu bleiben. Zudem ist die ganzheitliche Betrachtung des Menschen in seinem gesamten Systemumfeld „Leben“ und „Arbeitswelt“ eine viel spannendere Angelegenheit, als ihn nur isoliert in seinem organisch – biologischem System zu sehen.

Dieser Betrachtung folgend konnten zum Beispiel Mitarbeiter, die aufgrund von Alter und jahrzehntelanger Schichtdienste gesundheitliche Einschränkungen haben, in eine für sie geeignete Arbeitstätigkeit überführt werden oder Ihr Arbeitsplatz wurde so strukturiert, dass sie dort wieder zurechtkommen. Diese Kollegen sind dann natürlich einfach sehr dankbar und happy. Und das bekommen Sie auch zurückgespiegelt.

Machen wir uns nichts vor, Arbeitsnehmer gehen dorthin, wo sie sich am wohlsten fühlen und das Gefühl haben, weiter zu kommen. Das Geld ist dabei zwar wichtig, aber nicht um jeden Preis. Auch das Umfeld muss stimmen, wie Arbeitssituation, die Verhältnisse und auch das Betriebsklima. Wir in der Arbeitsmedizin können da einen guten Beitrag leisten, in dem wir bei den Verhältnissen ansetzen. Wir können mit unseren Empfehlungen dazu beitragen, Arbeitssituationen so zu gestalten, dass der einzelne Mitarbeiter gut zurecht kommt und sich wohl fühlt, was letztendlich auch die Gesundheit fördert. So profitieren am Ende alle Seiten davon.

Gute und motivierende Stimmung im Unternehmen wirken sich auf das gesamte Betriebsklima aus. Auch die Passagiere spüren diesen Spirit. Der Flughafen München rühmt sich als einziger in Europa seiner 5Sterne Bewertung. Ohne eine gut funktionierende arbeitsmedizinische Betreuung würde dieser 5Sterne Status nicht zu halten sein. Wenn zum Beispiel ein unmotivierter Mitarbeiter durch die Halle schlappt und den Kunden auf eine Frage hin nur anraunzt, dann wird dieser Kunde niemals eine 5Sterne Bewertung abgeben. Wenn der Mitarbeiter aber zufrieden ist und in einem relativ vernünftigen Arbeitsklima arbeitet, in dem er sich wertgeschätzt fühlt, wird er seine Zufriedenheit zeigen und sein Umfeld ebenfalls wertschätzend behandeln – eben auch einen fragenden Passagier.

 

Herzlichen Dank für das Interview!