Stiftung Arztgesundheit: Und wer kümmert sich um die Ärzt*innen?

Wie aus einer plötzlichen Eingebung die Stiftung Arztgesundheit entstand

Docatwork im Gespräch mit Prof. Dr. med. Jörg Braun.

Der Chefarzt Innere Medizin und Ärztliche Direktor Park-Klinik Manhagen, Großhansdorf, gründete 2015 die Stiftung Arztgesundheit.

Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

 

 

Herr Professor Braun, mögen Sie sich und Ihren Lebensweg bitte einmal vorstellen? 

Ich hatte das Glück, in Lübeck, Dublin und Kiel studiert haben zu dürfen. Insgesamt war es ein gutes, praxisorientiertes Studium. Anschließend bin ich zurück nach Lübeck gegangen und habe dort 15 Jahre an der Uni Lübeck gearbeitet. Zunächst als Jung-Spund, später dann als Oberarzt.
Meine nächste Station war die Klinik Wandsbek, wo ich 12 Jahre als Chefarzt die internistische Fachabteilung verantwortete. Das war wirklich eine tolle Zeit, mit einem großartigen Team. Allerdings merkte ich zunehmend, wie sich seitens der Klinik-Leitung der Fokus auf ökonomische Aspekte konzentrierte. Das wiederum konnte ich mit meinem ethischen Rollenverständnis nicht vereinbaren. Mir war klar, ich muss etwas ändern.

Auf etwa 100 Seiten stand, was ich vom Leben erwarte

Parallel zu meiner Tätigkeit als Chefarzt begann ich mit einer einjährigen Coachingausbildung. Dabei lernte ich, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten: Meine Rolle, die Rolle meiner Geschäftsführer und auch meiner Abteilung. Mit Unterstützung meines Coach-Lehrers begann ich aufzuschreiben, was ich vom Rest meines Lebens erwarte. Am Ende stand auf 100 Seiten, wie ich mir die nächsten Jahre vorstelle. Sowohl in privater als auch beruflicher Hinsicht. Mit diesem Plan stellte ich mich meinem jetzigen Arbeitgeber vor. Ich bin jetzt seit sechs Jahren Chefarzt und Direktor der inneren Medizin in der Klinik Manhagen. Chefarzt in Teilzeit, was in Deutschland nicht sehr häufig passiert. Während meiner Coachingausbildung entwickelte ich zusätzlich die Stiftung Arztgesundheit. Als ich hier in Manhagen anfing, war ein Großteil der dafür notwendigen Gründungsarbeit bereits erledigt.

Sie sind seit 1988 approbierter Mediziner und somit schon über 30 Jahre als praktizierender Arzt tätig. Wie stand es während Ihrer beruflichen Anfänge um die Gesundheit von Ärzt*innen? Gab es das Thema damals schon?

Nein, das war völlig absurd. Damals an der Uniklinik hatte man nur zwei Ziele im Leben: um 18:15 Uhr einmal kurz zum Supermarkt zu hetzen um ein paar Lebensmittel zu ergattern. Und zweitens: ausreichend Schlaf zu bekommen. Wir haben damals wirklich sehr viel gearbeitet.

Allerdings konnten wir uns, im Gegensatz zu der jetzigen Generation, in dieser Zeit ausschließlich auf die Patientenversorgung und Wissenschaft fokussieren. Ökonomische Gesichtspunkte spielten überhaupt keine Rolle. Ich bin heute noch fassungslos darüber, wie egal das damals war. Langsam und schleichend nahmen diese Aspekte bei der ärztlichen Tätigkeit immer mehr Raum ein.

Wodurch kam es, dass Ärzt*innen schließlich auch wirtschaftlich denken und handeln mussten?

Einerseits liegt es am medizinischen Fortschritt, der uns heute unfassbar tolle Sachen machen lässt, gleichzeitig aber auch sehr teuer ist. Zweitens wurde das DRG-System eingeführt, eine Regulierung der Abrechnungszeiten in Krankenhäusern. Drittens kam hinzu, dass die Länder für die Infrastruktur in den Krankenhäusern verantwortlich waren, dieser Verpflichtung aber nicht ausreichend nachkamen. Das wiederum führte letztendlich dazu, dass Querfinanzierungen über die Krankenversorgung vorgenommen werden mussten. Und der vierte Punkt ist die Privatisierung im Krankenhaus. Verantwortliche kennen die Krankenhäuser in der Regel nicht besonders gut und kümmern sich nur selten um eine sinnvolle Krankenversorgung. Ganz im Gegenteil, sie fokussieren sich eher auf die Gewinnmaximierung.

Arztferne Tätigkeiten nahmen zu

Diese vier Punkte bestärken sich gegenseitig. Sie haben dazu geführt, dass sich Ärzt*innen heute im Krankenhaus zunehmend auch in der Praxis überwiegend mit arztfernen Tätigkeiten beschäftigen und auseinandersetzen müssen. Da kollidieren zwei Rollen: Die Fürsorge um die Patienten auf der einen und die Erlösoptimierung auf der anderen Seite. Das muss unweigerlich knirschen.

Warum hat das Thema Arztgesundheit vor 30 Jahren noch keine Rolle gespielt, obwohl auch damals sehr hart und viel gearbeitet wurde? War der Druck nicht so hoch?

Doch der Arbeitsdruck war schon sehr hoch. Und auch damals war nicht alles rosig. Ich hatte mehrere Kollegen, die wirklich schwere Alkoholiker waren, was damals durch ärztliche Solidarität gewissermaßen kaschiert wurde. Nur so konnten die betroffenen Kollegen weiterhin arbeiten.
Gleichzeitig habe ich erlebt, wie ein Chirurg mit 52 ein Herzinfarkt bekam und daraufhin gekündigt wurde. Der Chef war damals der Meinung, einen nicht belastbaren Chirurgen könne man nicht brauchen und er möge besser zum Gesundheitsamt wechseln. Ein anderer Chirurg erzählte damals stolz, obwohl er schon 58 Jahre sei, läge seine Lebenserwartung eigentlich bei 56 Jahren. Kurze Zeit später bekam er einen Schlaganfall und wurde arbeitsunfähig. Es gab auch damals schon ausgesprochen unvernünftige Arbeitsweisen.

Ältere Kollegen reagieren oftmals mit Unverständnis 

Wenn ich heute auf einem Chirurgen Kongress einen Vortrag halte, sind die älteren Kollegen oftmals verblüfft, dass jemand auf die Idee kommt, sich über die Gesundheit von Ärzt*innen Gedanken zu machen. Ich erinnere mich, wie einmal ein Chirurg älteren Semesters einmal aufstand mit dem Hinweis, das sei doch alles Quatsch. Er selber hätte sich Freitagmittag seine Schulter operieren lassen, damit er montags wieder im OP stehen konnte. Und darauf sei er stolz. Und das Hygienethema sei auch völlig überbewertet, – er hätte sich noch nie im Leben seine Hände desinfiziert. An diesem Punkt kam das Publikum doch zu der Überzeugung, dass dieser Ansatz wenig erstrebenswert sei.

Welche Faktoren sorgen im Alltag von Ärzt*innen am stärksten für ein dauerhaftes Überforderungsgefühl? Gibt es Unterschiede zwischen Klinik versus Praxis?

Ich glaube tatsächlich, dass es sich im Kern um Rollenkonflikte handelt. Ärzt*innen sind gewissermaßen ihr Leben lang schon die ‚Top of the pops‘. Die Schule mit links gewuppt gehören sie samt 1,0 er Abi bereits in jungen Jahren schon zu den Besten. Anschließend surfen sie easy durchs Studium und stoßen dabei nie wirklich an ihre Grenzen. Sie füllen all ihre Rollen immer wieder perfekt aus. Das war immer schon so. Auch vor 30 Jahren hat man bis ‚zum Umfallen‘ gearbeitet und die meisten Partner haben das damals akzeptiert. Im Wesentlichen waren alle Rollen miteinander kongruent.

Rollen passen nicht  mehr zusammen

Jetzt ist das anders. Jetzt treffen Rollen aufeinander, die nicht mehr passen. Gerade Ärztinnen, die Familie und Karriere vereinen möchten, wählen die Teilzeitstelle als eine gute Alternative. Allerdings muss sie sich dabei, genauso wie ihre Kolleg*innen in Vollzeit, sowohl um die Patienten kümmern, als auch den ökonomischen Erfolg sicherstellen. Das bringt sie in ein Spannungsfeld. Vor allem dann, wenn sie trotz weniger verfügbare Zeit alles perfekt machen wollen. Das kann nicht funktionieren. Das ist eine „Mission Impossible“.

Wenn Ärzt*innen allerdings merken, dass ihre Leistung nicht mehr reicht, dann haben sie einen einfachen Reflex: Sie arbeiten härter. Gleichzeitig ist ihre Fähigkeit um Hilfe zu bitten, freundlich ausgedrückt, unterentwickelt. Auf diese Weise schaffen es Ärzt*innen, ihren Akku ganz runterzufahren ohne überhaupt mit der Wimper zu zucken. Nicht selten führt dies in den ärztlichen Suizid. Am meisten hat mich an den Studien schockiert, die ich gelesen habe, dass ein Drittel der Ärzt*innen vor dem Suizid nicht einen einzigen Tag krankheitsbedingt zu Hause geblieben sind. Sie haben bis dahin überhaupt nicht gemerkt, dass sie nicht mehr können und sind dann mit voller Fahrt an die Wand gefahren.

Somit müssen Ärzt*innen einsehen, dass selbst sie an einen Punkt kommen können, an dem sie nicht mehr funktionieren. Darüber hinaus ist sowohl die Gesellschaft gefragt als auch die Berufsgruppe selbst anzuerkennen, dass Ärzt*innen auch mal krank sind.

Ärzt*innen haben von jeher einen eher niedrigen Krankenstand. Dieser Zustand wurde irgendwann eingepreist. Das DRG-System basiert auf einer Kostenkalkulation, die einen sehr, sehr niedrigen Krankenstand der Ärzt*innen zugrunde legt. Patienten verstehen natürlich generell, dass auch Ärzt*innen mal krank sein können. Manche akzeptieren sogar, dass sie Urlaub machen (lacht), aber wenn es sie persönlich betrifft, können sich Patienten auch schon mal empören. Stellen Sie sich vor: Sie als Patient haben sich auf eine Darmspiegelung vorbereitet, nicht gegessen und sehr viel Flüssigkeit getrunken. Der Tag der Spiegelung kommt und Sie werden in der Praxis begrüßt mit „sorry, wir müssen den Termin verschieben“. Dann muss man schon recht geduldig sein, um hier Verständnis zeigen zu können.

Unfit for Work

Sicherlich möchte niemand von Ärzt*innen operiert werden, die mit 39 Grad Fieber im OP steht. Allerdings müssen Ärzt*innen hier selbst definieren, wann sie unfit for work sind. Wenn beispielsweise ein Kollege morgens aufwacht und sich so schwach fühlt, dass er seine Frau bittet, ihn zur Arbeit zu fahren, wäre dies der Moment besser zu Hause zu bleiben. In solch einem Zustand würde er jeden Patienten sofort und ohne zu zögern krankschreiben. Ich kann ebenfalls diverse Situationen aufzählen, in denen ich trotz Krankheit gearbeitet habe. Nur durch Reflexion meines eigenen Verhaltens habe ich später die Zusammenhänge erkannt.

Gibt es Unterschiede zwischen niedergelassenen Ärzt*innen und Klinik Ärzt*innen?

Ich denke schon, dass die Zwänge unterschiedlich sind. Im Krankenhaus gibt es im Prinzip Kollegen, die einen Ausfall ersetzen können. Leider ist der Stellenplan in deutschen Kliniken meist so knapp gestrickt, dass niemand ausfallen darf. Anders in Norwegen. Dort gibt es zum Beispiel ein Pool an Vertretungsärzt*innen, die bei Bedarf einspringen können. Hinzu kommt das knappe Zeitfenster, das den Ärzt*innen bei uns – auch im Krankenhaus – für ihre Patienten zur Verfügung steht. Ich habe in meiner Abteilung mal messen lassen, wie lange wir im Schnitt bei den Patienten sind. Wir lagen bei etwa 10 Minuten. Für jemanden, der 24 Stunden im Krankenhaus liegt, ist das ziemlich ernüchternd. Die Ärzt*innen können schlichtweg nicht mehr Zeit erübrigen. Systembedingt müssen sie heute sehr viel administrative Aufgaben übernehmen, was mindestens die Hälfte des Tages in Anspruch nimmt. Durch die Privatisierung hat sich der wirtschaftliche Druck enorm verschärft.

In der Einzelpraxis gibt es in der Regel keine Vertretung, zumal kranke Ärzt*innen keine besonders gute Werbung sind. Das ist vergleichbar mit Zahnärzt*innen, die keine Zähne haben und Gebiss tragen. Oder hässlichen plastischen Chirurg*innen. Das wollen und können sie sich nicht leisten. Auf der anderen Seite verzichten viele niedergelassene Ärzt*innen darauf, mit einer Betriebsausfallversicherung oder Krankentagegeldversicherung für sich vorzusorgen. Wer eine Praxis übernimmt und sich verschuldet, wird Kosten dieser Art erst mal einsparen. Das ist dann natürlich fatal.

Deshalb ist der sich abzeichnende Trend weg von Einzelpraxis – hin zu Gemeinschaftspraxen aus meiner Sicht vernünftig. Auch wenn diese in der Regel so ausgeplant sind, dass ein krankheitsbedingter Ausfall zu einem terminlichen Chaos führen kann.

Eine Umfrage von Medscape aus 2019 gibt an, dass fast jede zweite Ärzt*in in Deutschland von Gefühlen körperlicher, emotionaler und mentaler Erschöpfung berichtet. Wie gehen Ärzt*Innen mit dieser Situation eines ‚Quasi-Burn-outs‘ um?

Wenn Ärzt*innen krank werden, gibt es zwei Reflexe. Erstens leiten sie eine Selbstdiagnostik ein, indem sie sich zum Beispiel Blut abnehmen. Zweitens starten sie mit einer Selbsttherapie und wählen dabei nicht immer die beste Methode. Viele Ärzt*innen suchen Zuflucht bei Alkohol, Schmerzmitteln und Schlafmitteln. Wohlwissend, was es für die eigene Gesundheit bedeutet. Wir Menschen haben die faszinierende Fähigkeit, etwas zu wissen und trotzdem das Gegenteil davon zu tun. Wir können eine Zigarette rauchen und den Patienten dabei sagen „Rauchen ist gesundheitsgefährdend, – lassen Sie das lieber“.

Innere und äußere Griffnähe

Es gibt zwei Bereiche, die das Suchtrisiko deutlich erhöhen. Ich nenne es die äußere und die innere Griffnähe. Mit der äußeren Griffnähe meine ich den beliebigen Zugang zu allen Suchtmitteln wie Morphin, THC und Schlafmittel. Die innere Griffnähe bezieht sich auf die Tatsache, dass Ärzt*innen ihren Patienten in der Regel Medikamente verordnen, um gesundheitliche Probleme zu behandeln. So agieren sie dann auch bei sich selbst. Das ist logisch und konsequent.

Es gibt die Redensart: Schuster tragen die schlechtesten Schuhe. Kann das auf Ärzt*innen übertragen werden? Wie sehr kümmern sich Ärzt*innen um ihre eigene Gesundheit?

Nur wenige Ärzt*innen nehmen die Vorsorgeuntersuchung für sich in Anspruch. Die Impfbereitschaft von Ärzt*innen ist beispielsweise desolat. Nur etwa ein Drittel geht zur Grippeimpfung. Zum Glück ist es bei Corona viel besser.

Ärzt*innen generell schwierige Klientel für Prävention

Ganz konkret: Wir haben seitens unserer Stiftung Resilienz Kurse mit einem tollen Programm geplant und dabei viel Herzblut reingesteckt. Aber haben es leider bisher noch nicht geschafft, Ärzt*innen dafür zu gewinnen. Eigentlich wissen sie, welche Maßnahmen sie ergreifen sollten. Also Ärzt*innen sind eine schwierige Klientel für Präventionsmaßnahmen. Wir geben dieses Thema aber nicht auf und machen natürlich weiter.

Wer sich mit Arztprävention beschäftigt, wird unfassbar viel lernen. Wenn ich verstehe, woran es bei mir hakt, dann verstehe ich auch viel besser, woran es bei meinem Patienten hakt.

Auch Ärzt*innen können nach einem Unfall eine posttraumatische Belastungsstörung bekommen

Das ist keine Aufgabe, die Ärzt*innen für sich selber lösen müssen. Jeder Mensch, der sich krank fühlt, geht zu Ärzt*innen. Wohin aber geht ein Psychiater mit Depressionen oder bei einer posttraumatischen Belastungsstörung? Warum sollen Ärzt*innen diese nach einem Unfall nicht bekommen? Was ist bei uns anders? Die Genetik ist es jedenfalls nicht. Das Menschsein auch nicht. Insofern sehe ich die Prävention für Ärzt*innen als eine sehr wichtige Aufgabe an. Es ist in hohem Maße kosteneffektiv dafür zu sorgen, dass eine Berufsgruppe gesund bleibt, deren Ausbildung sehr teuer ist und bei der sich ein Mangel abzeichnet. Jeder Fußballverein würde sich um die Knie seiner Fußballer kümmern.

Die Ärztekammer leistet hier teilweise Unterstützung. Aber seitens der Politik ist nichts zu erwarten. Wenn es knapp wird, gehe ich quasi „betteln“ – überwiegend bei meinen Patienten.

Wenn es dann aber doch mal ‚ernst’ wird: „Sind Ärzt*innen die besseren Patienten“?

Ärzt*innen fällt es in der Regel nicht einfach, Kolleg*innen aufzusuchen. Da sitzt häufig die Sorge im Nacken, entweder todkrank zu sein oder als Hypochonder zu gelten.

Das Thema nehme ich gern in meine Vorträge mit auf. Ich versuche dabei deutlich zu machen, dass Ärzt*innen auch Hypochonder sein dürfen. Ärzt*innen auf dem Patientenstuhl ist für beide Seiten oftmals schwierig und stellt eine ganz besondere Situation dar. Sie erfordert einen klaren Rollenwechsel, die manch einer möglicherweise intuitiv managet.

Professionelles Vorgehen ist unabdingbar

An dieser Stelle ist es meines Erachtens äußerst wichtig, das Ärzt*innen, die Kolleg*innen behandeln, professionell vorgehen. Das fängt damit an, dass ein regulärer Termin vergeben wird. Eine Behandlung zwischen Tür und Angel sowie weder Brief noch Rechnung zu verschicken, ist höchst unprofessionell. Augenärzt*innen müssen nicht verstehen, welche Konsequenzen eine Herzinsuffizienz hat. Und HNO Ärzt*innen müssen auch nicht wissen, wie Darmkrebs zu behandeln ist. Da sitzt ein Patient mit den gleichen Ängsten und Hoffnungen wie sonst auch. Ganz häufig stellt sich der Umgang objektiv als unfassbar schwer dar. Vielleicht sollte darüber nachgedacht werden, Spezialambulanzen für Ärzt*innen einzurichten. Gerade beim Thema Burn-out wäre das auf jeden Fall eine gute Idee. Denn wenn Burn-out Ärzt*innen als einzige ihrer Spezies eine Gruppentherapie in einer psychosomatischen Reha-Klinik starten, haben sie nach kürzester Zeit wieder ihre heilende und fürsorgliche Rolle eingenommen. Dann kümmern sie sich um die anderen und erklären ihnen, was sie machen müssen. Und kümmern sich folglich überhaupt nicht um sich selbst. Deswegen funktioniert– gerade bei Burn-out – nur ein Setting, wo Ärzt*innen unter sich sind.

 Sie haben 2014 die Stiftung Arztgesundheit ins Leben gerufen. Was war für Sie der ausschlaggebende Punkt, die Gründung zu initiieren? 

Wie es bei intellektuellen Prozessen manchmal so ist: Plötzlich gibt es eine Eingebung. Allerdings fühlte sich das Thema Arztgesundheit zunächst an wie ein nasses Stück Seife, das man überhaupt nicht richtig zu fassen bekommt. Ich musste über ein Jahr darüber nachdenken und sprechen. Sowohl mit Nichtärzt*innen als auch mit Ärzt*innen. Um überhaupt zu verstehen, wo die spezifischen Risiken liegen. In Deutschland gab es null Literatur dazu. Ich habe extra Norwegisch gelernt, – übrigens eine tolle Sprache, – weil in Norwegen Position Health ein großes Thema ist. Und zwar schon immer. Auch in anderen angloamerikanischen Ländern gibt es jedes Jahr Kongresse, die sich mit Arztgesundheit beschäftigen. In Deutschland gab es das nicht. Gar nicht. Und als ich dann auch noch gesehen habe, dass die Internetseite www.Arztgesundheit.de frei war, wusste ich, das scheint der Weg zu sein. Dieser Bereich war noch völlig unbeackert. Ich hatte dann das Glück einen meiner Patienten von dieser Idee so begeistern zu können, dass dieser mir das Startkapital für die Stiftung gab. Sämtliche Spenden generiere ich sowohl über meine Vorträge als auch über wohlgesonnene Patienten. Leider spenden Ärzt*innen nach wie vor sehr selten für diese Stiftung.

Mit welchen Aufgaben und Fragestellungen beschäftigen Sie sich zurzeit in Ihrer Funktion als 1. Vorsitzender Stiftung Arztgesundheit?

Wie viele andere Einrichtungen auch, hat die Stiftung leider stark unter Corona gelitten. Weder konnte ich Vorträge halten, noch konnten Vereine, die sonst finanzielle Mittel übrig hatten, in diesem Jahr etwas spenden. Somit fing ich an, mich mit neuen Themen zu beschäftigen. Zum Beispiel damit, dass Ärzt*innen besonders kränkbar sind. Ärzt*innen sind Kritik gegenüber unfassbar empfindlich. Es ist sogar ein wesentlicher Burn-out Faktor. Ein ganz spannendes Thema, welches bis dato noch nicht untersucht wurde. Nicht mal in Norwegen. Die Frage, was überhaupt Kränkbarkeit bei Ärzt*innen ist fasziniert mich bei recht kritikempfindlichen Menschen sehr. Wie kommt man dazu und in welchen Settings ist man besonders vulnerabel. Und was kann man dagegen tun?

Ärzt*innen fühlen sich leichter gekränkt 

Kränkbarkeit sucht sich gewissermaßen jeder selber aus. Nicht der andere ärgert mich, sondern ich selbst ärgere mich. Entweder über den anderen oder über mich (meist über beide). Sobald uns das klar wird, haben wir die Chance, durch einen Perspektivwechsel zu verstehen, wann uns das passiert und was wir dagegen tun können.

Wir dürfen nicht vergessen: Ärzt*innen sind over succeed, sonst hätten sie die Zulassung für das Medizinstudium gar nicht erhalten. Und over-succeeder reagieren, genauso wie Künstler, äußerst empfindlich auf Kritik. Das kann bei Patienten passieren, die behandelnde Ärzt*in anonym über soziale Medien kritisieren oder auch Staatsanwält*innen, die ihnen einen Fehler unterstellen. In dem Moment kommt der alte Mechanismus ins Spiel. Wir Ärzt*innen haben gelernt, unsere Probleme selber zu lösen. Aber bei Kränkbarkeit funktioniert das nicht. Wir brauchen dann ein Gegenüber, das uns auf den Boden der Tatsachen zurückholt und uns darin bestärkt, entspannt zu bleiben.

Ärzt*innen DÜRFEN sich Hilfe holen

Meine Haupttätigkeit bei der Stiftung ist es, in erster Linie auf das Thema Arztgesundheit aufmerksam zu machen und darüber zu informieren. Nicht nur bei Ärzt*innen, sondern auch in der Gesellschaft allgemein. Wir wollen Ärzt*innen klarmachen, dass auch sie das Recht haben, Hilfe einzufordern. Letztendlich geht es darum, ihnen einen Spiegel vorzuhalten und zu verdeutlichen, wie Ärzt*innen funktionieren. Ich kann mich an einen Kollegen erinnern, der mich nach einem Vortrag anrief und erzählte, dass er nun endlich die längst überfällige Vorsorgecoloskopie machen würde. Er wollte dies seit fünf Jahren tun. Natürlich wisse er, wie wichtig Vorsorge sei und würde seinen eigenen Patienten auch immer dazu raten. Im Rahmen dieser Untersuchung stellte sich tatsächlich ein Befund heraus, der glücklicherweise gut operabel und heilbar war. Das war natürlich eine schöne Rückmeldung.

Mit meinen Vorträgen bekomme ich zunehmend die Gelegenheit, als Teilprogramm im Rahmen bestehender Ärzte-Kongresse mitzuwirken. Die Nachfrage steigt und das Thema findet immer mehr Akzeptanz. 2017 wurde zum Beispiel das Genfer Gelöbnis umformuliert. Dort steht unter anderem geschrieben, dass Ärzt*innen das Recht haben, sich um ihre Gesundheit zu kümmern. Ein großer Satz und ein großer Schritt in die richtige Richtung. In vielen Kongressen wird das Thema jetzt angesprochen und findet seinen eigenen Raum.

Nachwuchs zeigt sich dem Thema gegenüber deutlich aufgeschlossener

Zudem engagiere ich mich in einem Fortbildungsverein (www.seminar-westerland.de), mit dem wir seit vielen Jahren zwei Dinge ganz konsequent umsetzen. Das eine ist, dass wir keine Industrie Unterstützung annehmen, die wir zum Glück auch nicht brauchen. Und das Zweite ist, dass wir uns bei jeder unserer Fortbildungswochen mindesten einen halben Tag lang mit dem Thema Arztgesundheit beschäftigen. Die jungen Ärzt*innen zeigen hier sehr großes Interesse. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie dieses „unbedarfte sich um Patienten kümmern dürfen“ nie erlebt haben und wohl auch nie erleben werden. Sie sind tatsächlich viel wacher für diese Mechanismen, was auch sehr wichtig ist. Das Thema Arztgesundheit mit all seinen Facetten betrifft nämlich nicht nur die Ärzt*innen, sondern auch schon Studierende. Auch Medizinstudierende begehen Suizid. Wir müssen mit dieser Aufklärung also viel früher anfangen, was auch schon ganz gut funktioniert. Mehrere Universitäten haben das Thema Studierendengesundheit in ihr Curriculum mit aufgenommen. Das finde ich natürlich großartig. Es bewegt sich doch was.

Eine amerikanische Studie hat gezeigt, dass in den USA jedes Jahr 150.000 Patienten ihren Arzt durch Suizidfälle verlieren. Das ist eine ganz andere Betrachtungsweise. Es werden letztendlich nicht die Köpfe gezählt, die Suizid begangen haben. Auch für Patienten spielt es eine wichtige Rolle, ob ihre Ärzt*innen gesund sind. Es gibt klare Zusammenhänge, die belegen, dass eine Ärzt*in, die sich selber um ihre Gesundheit kümmert auch gesündere Patienten hat. Sie geht mit gutem Beispiel voran und kann ihre Ratschläge und mit eigener Erfahrung untermauern. „Lieber Patient, mach besser eine Grippe/Corona Impfung, habe ich auch gemacht. Oder vorsorglich eine Darmspiegelung. Ich als Arzt fahre jeden Morgen mit dem Rad in die Praxis, um mehr Bewegung zu haben“.

Dann entwickelt sich die Arztgesundheit plötzlich zu etwas für das wir uns nicht schämen müssen. Ganz im Gegenteil, dass sie sich um sich kümmern macht Mediziner*innen zu noch besseren Ärzt*innen. Wenn diese Erkenntnisse in den Köpfen der Kolleg*innen etabliert sind, haben wir gewonnen.

Herzlichen Dank für das Interview!