Aus der Praxis: Dr. Berthold Schröder, Leitender Betriebsarzt Versicherungsunternehmen

Experten-Interview Arbeitsmedizin_Docatwork mit Dr.Berthold_Schröder
Dr. Berthold Schröder, (c) Sebastian Berger www.sebastian-berger.de

Passionierter Förderer gesunder Arbeitsumgebungen

In unserer Serie aus der Praxis für die Praxis sprachen wir an dieser Stelle mit Dr. Berthold Schröder.

Zugewandt und lebendig führt er uns durch seinen beruflichen Werdegang und beschreibt seine Sichtweise auf die teilweise drängenden Themen rund um die Arbeitsmedizin.

Der 60-jährige Vater von zwei erwachsenen Kindern widmet sich in seiner Freizeit unter anderem dem Radwandern und der Pflege seines Gartens.

 

 

Was war der entscheidende Auslöser für Sie, das Fachgebiet Arbeitsmedizin zu wählen?

Ich stamme aus Wolfen, einem Ort in der Nähe von Bitterfeld, Sachsen-Anhalt. Das ist die Heimat der Chemieindustrie, vergleichbar mit BASF in Ludwigshafen. Nur hinsichtlich der Umweltschädigungen wesentlich schlimmer. Das war für mich ein großer Treiber, meinen Beitrag leisten zu wollen, als Arbeitsmediziner für gesündere Arbeitsbedingungen zu sorgen.

Inzwischen hat sich das in meiner Heimat völlig gedreht. Die Braunkohletagebaue ringsum Bitterfeld wurden geflutet, wodurch eine Seenlandschaft entstanden ist. Die chemische Industrie gibt es in diesem Umfang nicht mehr. In der Mulde, das ist das Flüsschen, das dort fließt, gibt es neben Fischen sogar wieder Biber.

Es ist wirklich eine tolle Entwicklung, die dort stattgefunden hat. Ich habe damals gesehen, unter welchen Arbeitsbedingungen Menschen gearbeitet haben. Die Produktionsanlagen stammten teilweise aus den 20er, 30er-Jahren und waren bis in die Achtziger hinein noch aktiv. Mit entsprechenden Risiken. Das war für mich auch Anlass, mich mit dem Thema stärker zu beschäftigen.

Mauerfall hat vieles verändert

Während meines Studiums der Humanmedizin in Jena liebäugelte ich lange mit der Allgemeinmedizin und wollte Hausarzt werden. Ich beendete mein Studium in einer spannenden Zeit als die Mauer gefallen war und sich nun Möglichkeiten der Facharzteiterbildung auch jenseits der innerdeutschen Grenze eröffneten. Um dieses Ziel zu erreichen, durchlief ich verschiedene medizinische Stationen. Darunter die Innere Medizin und die Chirurgie. Auch sammelte ich Erfahrungen als Notarzt.

Hinzu kam, dass ich Mitte der 90er-Jahre auf Rahmenbedingungen im Bereich der Niederlassung stieß, die mich zunehmend frustrierten. Diese Erfahrung veranlasste mich dazu, mich zusätzlich im Fachbereich Arbeitsmedizin zu qualifizieren.

Anfangs plante ich, mich als Hausarzt niederzulassen und nebenbei ein oder zwei Unternehmen betriebsärztlich zu betreuen. Jedoch erkannte ich bald das größere Potenzial der Arbeitsmedizin und entschied mich, meinen Fokus vollständig daraufzulegen.

1998 trat ich die erste Stelle bei meinem aktuellen Arbeitgeber an. Damals mit der Verantwortung, mich um den betriebsmedizinischen Bereich zu kümmern. Zusätzlich war meine Expertise in der Arbeitsmedizin gefragt, um im Rahmen unserer Berufsunfähigkeitsversicherung die realen Auswirkungen medizinischer Einschränkungen auf die Arbeitsfähigkeit der Kunden zu bewerten.

Im weiteren Verlauf war ich am Aufbau eines Ärzteteams in München beteiligt, das sich intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzte. Kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie wechselte ich erneut innerhalb des Unternehmens und übernahm die Leitung des Bereichs Gesundheit, eine Position, die ich bis Ende 2023 innehatte. Inzwischen gebe ich meine Erfahrungen an meinen Nachfolger weiter und habe dessen Stellvertreterrolle übernommen.

Wie sehen Sie den heutigen Stellenwert des Themas „Gesundheit bei der Arbeit durch Prävention“ im gesellschaftspolitischen Kontext? Wie stark hat sich die Bedeutung aufgrund von Corona Ihrer Meinung nach verändert? 

Corona hat schon sehr dazu beigetragen, den Stellenwert von Arbeitsmedizin zu stärken. Sie erinnern sich vielleicht an die Pressekonferenzen des RKI, bei denen Prof. Lothar H. Wieler immer Kollegen oder Vertreter aus einer anderen Branche neben sich sitzen hatte. Und es gab einen Tag, das war im Juni 2021, da saß der leitende Betriebsarzt von Siemens mit am Podium, was in der Tagesschau erschien. Dadurch bekommt unsere Fachrichtung eine ganz neue Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Das ist wichtig für uns. Solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen um die Bedeutung der Arbeitsmedizin und deren Zugang zu einem Großteil der Menschen brauchen wir.

Wir diskutieren in unseren arbeitsmedizinischen Foren immer wieder darüber, wie wir das Berufsbild Betriebsmedizin in der Öffentlichkeit bekannter machen können. Die Aufklärungsarbeit ist unseres Erachtens nicht nur die Aufgabe von uns Betriebsmedizinern, sondern ein Stück weit auch eine bundeszentrale gesundheitliche Verantwortung. Mit dem Ziel, relevante Gesundheitssektoren in Prävention, ambulanter und stationärer Betreuung sowie Rehabilitation enger miteinander zu verbinden – so ähnlich wie zur Zeit der bundesweiten Impfkampagne in der Corona-Zeit.

Wir müssen als Arbeitsmediziner ein Stück weit aus der eigenen Filterblase heraustreten. Wenn wir diese Themen immer nur bei der DGAUM und beim VDBW diskutieren, dann bleiben wir intern im eigenen Kreis. Wir müssen rausgehen in die Öffentlichkeit. Ich habe zum Beispiel neulich einen LinkedIn Post veröffentlicht mit dem Thema „Was macht eigentlich ein Betriebsarzt?“ Die Resonanz darauf war groß, obwohl ich gar nicht so sehr ins Detail gegangen bin.

Es geht um das Thema Vertrauen und Gesundheitskompetenz. Auch ein Betriebsarzt unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht. Die größte Sorge der Mitarbeitenden ist, dass Vertraulichkeiten, die sie dem Betriebsarzt erzählen, ungefiltert an die Personalabteilung weitergetragen werden. Das ist, wie wir wissen, bei weitem nicht der Fall. Nur dann, wenn der Mitarbeiter es explizit möchte. Und das muss er dann auch ausdrücklich sagen.

Nach Corona hat flexibles Arbeiten deutlich zugenommen, was sowohl Freiräume in der Arbeitsgestaltung, als auch Risiken hinsichtlich der Isolation des Einzelnen im Home-Office mit sich bringt. Auch diese Entwicklung müssen wir als Arbeitsmediziner mit begleiten und psychische Gefährdungen minimieren.

Es fehlt noch das verbindende Dach

Im Mittelpunkt unseres Handelns steht der Mensch. Der Patient und die Patientin, der Mitarbeiter und die Mitarbeiterin. Es gibt zu viele Hürden, die es uns erschweren, im Sinne des Mitarbeiters über die Sektorengrenzen in der medizinischen Betreuung hinaus zu handeln. Hier steckt sehr viel Potenzial in der Weiterentwicklung.

Die drei Bereiche im Gesundheitssektor müssen sich besser miteinander verzahnen. Dazu gehört die Betriebsmedizin, die Allgemeinmedizin (Hausärzte) und das stationäre Gesundheitswesen, also Krankenhäuser oder Reha Einrichtungen. Wenn zum Beispiel ein Mitarbeitender aus der Reha entlassen wird, gibt es sozialmedizinische Empfehlungen für den Arbeitsplatz. Diese finden häufig mehr oder weniger zufällig ihren Weg zum Betriebsarzt. Und nur dann, wenn der Mitarbeiter das will und entsprechend weiterreicht. Leider fehlt es oft an einem guten Prozess im Sinne des gesundheitlich beeinträchtigten Mitarbeiters den Arbeitsplatz so zu gestalten, wie es für diesen angemessen ist. Hierfür müsste die intersektorale Zusammenarbeit optimiert und viel stärker in den Vordergrund gerückt werden.

Nach wie vor ist viel Aufklärungsarbeit erforderlich. Ich wünschte mir tatsächlich eine Kampagne, die an die normale Öffentlichkeit gerichtet ist und sehe da zum Beispiel die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ in der Pflicht. Dort wäre das Thema sehr gut platziert.

  • Was macht ein Betriebsarzt?
  • Was ist dessen Rolle und wie arbeitet er zum Beispiel mit Hausärzten zusammen?

Hier sehe ich ein großes Verbesserungspotenzial – auch zum Beispiel beim betrieblichen Eingliederungsmanagement. Wenn jemand eine bestimmte Zeit pro Jahr arbeitsunfähig ist, hat er als Arbeitnehmer das Recht auf eine betriebliche Eingliederungsmaßnahme. In solch einem Fall ist es ungeheuer wichtig, dass sich Betriebsärzte mit Hausärzten untereinander abstimmen, um gemeinsam Lösungen zu finden. Allerdings sehe ich aufgrund des sektoralen Nebeneinanders immer wieder Hürden. Der Hausarzt hat keine Zeit oder ihm fehlt die Entbindung der Schweigepflicht.

Mit welchen Aufgaben, Fragestellungen und Herausforderungen haben Sie sich in Ihrer Funktion als Chief Medical Officer eines Versicherungsunternehmens beschäftigt? 

Man könnte sich durchaus fragen, welche Belastungen in einem Versicherungsunternehmen vorliegen, in dem ja im Wesentlichen Verwaltungsprozesse ablaufen. Auf den ersten Blick kann ich die Frage durchaus nachvollziehen. Chemische Gefahrstoffe sind nicht vorhanden.

Insgesamt beobachten wir ja in unserer Gesellschaft eine Zunahme psychischer Erkrankungen – dem am Arbeitsplatz zu begegnen und gegenzusteuern halte ich für sehr wichtig.

Aber natürlich gibt es auch bei uns die Fragestellungen, wie wir Arbeit gesund gestalten können. Auch vor dem Hintergrund der Einführung agiler Arbeitsweisen oder dem Abbau von Hierarchien.

Wir überprüfen vorhandene Prozesse und strukturieren sie bei Bedarf neu. Diese gleichen wir dahingehend ab, dass sie gesundheitsförderlich sind und Stressoren reduzieren. Bei uns gibt es Mitarbeitende, die durchaus besonderen Risiken ausgesetzt sind. Dazu gehören Schaden-Außenregulierer, die Hochwassergebiete wie zum Beispiel das Ahrtal aufsuchen und Schäden bewerten müssen.

Wie hoch war das Haus überflutet, was ist von dem Haus noch übrig? Oder es gibt eine abgeknickte Windkraftanlage, die begutachtet werden muss? Auch die Reisemedizin spielt eine große Rolle. Als Finanzdienstleister vergeben wir auch Kredite. Wenn zum Beispiel ein Unternehmen einen Staudamm in Uganda plant, dann fährt eine Gruppe aus dem Finanzanlagebereich nach Uganda und schaut sich dort die Baustelle an. Diese Kolleginnen und Kollegen brauchen dann je nach Reiseziel eine Malaria-Prophylaxe oder Gelbfieber-Impfung. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es arbeitsmedizinisch uninteressant wäre, dem ist aber nicht so.

Spannend ist natürlich auch, wie wir zukünftig mit künstlicher Intelligenz zusammenarbeiten werden. Inwieweit wird künstliche Intelligenz unsere Prozesse optimieren können und welche Auswirkungen wird das mit sich bringen? Übernimmt beispielsweise künstliche Intelligenz einfache Aufgaben, die Arbeitssteuerung oder bestimmte Funktionen, die bisher beim Vorgesetzten lagen? Wie arbeiten Menschen mit KI zukünftig zusammen? Das finde ich extrem faszinierend.

Lebenslanges Lernen gewünscht

Das alles geht nur, in dem wir die Anpassungsfähigkeit unserer Mitarbeiter fördern und stärken. Deshalb spielt lebenslanges Lernen und die Bereitschaft dazu so eine große Rolle. Unsere Arbeit wird sich durch KI rasant verändern und jeder sollte sich darauf einlassen, diesen Wandel mitzugestalten.

Ein weiteres Thema, das uns sehr beschäftigt, sind die verschiedenen Generationen im Unternehmen. Die Babyboomer haben durchaus andere Stärken als die Generation Z. Wir versuchen die Zusammenarbeit so zu organisieren, dass sich diese am Ende ergänzen. Beide können voneinander lernen. Die einen lernen wie Tik Tok funktioniert und die anderen lernen, wie klassische Arbeitsthemen umgesetzt werden. Das sehe ich positiv.

Wir als Arbeitsmediziner müssen in der Lage sein, den Scheuklappenblick abzulegen. Weg vom Fokus auf nur Untersuchungsmedizin hin zu den großen ganzheitlichen Themen. Wir sollten die Bedeutung von „Beratung“ im Unternehmen verstehen und größer denken. Sowohl in der Beratung des einzelnen Mitarbeitenden als auch des Managements. Wichtig ist, dass die Kollegen und Kolleginnen verstehen, Arbeitsmedizin geht weit über das Thema Sehtest und Blutuntersuchung hinaus: Denn das ist lange vorbei.

Auch wir als Führungskräfte selbst müssen offen für neue Entwicklungen sein. Als Betriebsärzte sollten wir das Bedürfnis verspüren, uns den wichtigen Themen anzunehmen und dem Management den Nutzen klarzumachen. Das wird noch längst nicht überall praktiziert. Häufig ziehen sich Verantwortliche in der Arbeitsmedizin noch zurück auf die ursprüngliche Untersuchungsmedizin. Das ist aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäß. Wir haben die Aufgabe, Entwicklungen und Innovationen aus der Wissenschaft zu beobachten und Auswirkungen hinsichtlich Gesundheit am Arbeitsplatz zu kennen. Und Erkenntnisse in der Funktion als medizinischer Unternehmensberater in die Unternehmen zu tragen. Da können viele Betriebsmediziner noch „wacher und aktiver“ werden.

Wandel spürbar

Der Wandel ist allerdings bereits zu spüren. Wir dürfen nicht vergessen, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen Großunternehmen und den kleinen und mittleren Unternehmen. Ich würde behaupten, in den größeren fällt es leichter, Innovationen und neue Betreuungskonzepte durchzusetzen. Bei einem Zulieferer der Automobilindustrie zum Beispiel mit 200 Mitarbeitern kann das sicherlich schwieriger sein. Deshalb brauchen wir genügend personelle Ressourcen, damit wir uns auch mit strategischen Themen beschäftigen können.

Es kommt immer auch darauf an, wie ein Betriebsmediziner seinen Auftrag versteht. Mir macht es Spaß, mich mit strategischen Themen zu beschäftigen und mit dem Management oder auch anderen Gremien zu arbeiten.

Letztendlich müssen wir den Mehrwert eines Betriebsarztes klarmachen. Wir bringen oft ergänzende Perspektiven ein, die das Management so noch nicht auf dem Schirm hatte. Denn am Ende wollen wir dafür sorgen, dass Mitarbeitende lange im Unternehmen gesund, engagiert und damit produktiv arbeiten. Das ist unser Mehrwert und Nutzen – auch hinsichtlich eines Returns of Invest – den wir mit dem Schwerpunkt auf Mitarbeitergesundheit und eine gesunde Unternehmenskultur legen.

So zum Beispiel haben wir uns intern überlegt, wie wir eine Gesundheitsstrategie des Unternehmens formulieren. Durch die gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutzrahmenbedingungen sind viele Aktivitäten bereits geregelt. Diese müssen aber den Wandel der Arbeitswelt stärker berücksichtigen. Wir wollen deshalb weitergehen und haben für unsere Gesundheitsstrategie insgesamt folgende fünf Kernfelder identifiziert:

  1. Verhaltensprävention. Hier geht es darum, die Mitarbeiter mitzunehmen und sie darüber aufzuklären, was für ihre Gesundheit wichtig ist, was zu gesundheitsförderlichem Verhalten gehört und welchen Nutzen sie daraus ziehen können. Dadurch entwickeln wir Gesundheitskompetenzen des Einzelnen.
  2. Verhältnisprävention. Auf Basis regelmäßiger Gefährdungsbeurteilungen werden Prozesse und Arbeitsabläufe so gestaltet, dass sie Mitarbeitende unterstützen, die Arbeit erleichtern und Gesundheit erhalten.
  3. Bildung. Lebenslanges Lernen sorgt für Qualifikation, Wissen, Kompetenz und entwickelt Fähig- und Fertigkeiten – nicht nur in Sachen Gesundheit, sondern umfassend.
  4. Gesunde Führung. Wir befähigen Führungskräfte, Gesundheitskomponenten in ihren Führungsalltag zu integrieren. Somit schaffen wir partizipatives Führen und sagen toxischem Führungsverhalten den Kampf an.
  5. Auf der fünften Säule basiert alles: Unternehmenskultur. Wir fördern eine Unternehmenskultur des gesunden Miteinanders und der Achtsamkeit und etablieren Gesundheit als Top-Priorität.

Wir als Betriebsärzte haben an dieser Strategie maßgeblich mitgearbeitet und sie mitentwickelt. Das Ergebnis ist beim Management auf sehr fruchtbaren Boden gefallen, da es sich harmonisch in unser Unternehmensleitbild „We secure your Future“ integriert. Wir sind ein Versicherungs- und Finanzdienstleister, der natürlich Versicherungsschutz anbietet: Kranken- und Lebensversicherung sowie Berufsunfähigkeitsvorsorge. Unsere Gesundheitsstrategie passt deshalb auch sehr gut zu unserem unternehmerischen Leistungsportfolio.

Mich hat es persönlich sehr gefreut, dass wir hier unseren Beitrag leisten konnten. Und damit gleichzeitig auch den Wandel der Arbeitswelt mit begleiten.

Die Arbeitsmedizin ist ursprünglich aus dem Bergbau heraus entstanden. Lungenkrebs und schwerste körperliche Tätigkeiten haben der Gesundheit von Arbeitern damals schwer zu schaffen gemacht. Bei uns geht es weniger um schwere körperliche Tätigkeiten. Dennoch sehen wir vermehrt den Anstieg psychischer Belastungen bei unseren Mitarbeitenden. Wichtig ist, dass wir die Gründe dafür identifizieren, um Abhilfe zu schaffen. Für Betroffene machen wir Angebote, die diese Kollegen und Kolleginnen auffangen. Uns ist wichtig, dass wir psychologische Sicherheit vermitteln. Die Leute sollen merken, ich darf auch mal einen Fehler machen, ohne gleich scharf kritisiert zu werden. Bei uns werden sie als Mensch gesehen und dürfen aus Fehlern lernen. Das gehört aus meiner Sicht genauso zur Arbeitsmedizin.

Gleichzeitig haben wir unsere psychische Gefährdungsbeurteilung neu konzipiert. Bisher lag der Turnus bei drei Jahren. Seit kurzem führen wir sie jährlich durch. Das heißt, der Prozess hat sich enorm beschleunigt. Dadurch können wir kritische Punkte viel schneller identifizieren und entsprechend frühzeitig mit Maßnahmen und Angeboten reagieren.

Wie empfinden Sie die Entwicklung bzw. Image des Berufsbildes? Wie sehen Sie die Entwicklung? Was muss sich verändern, damit wir den Fachkräftemangel hier entgegenwirken können? 

Diese Fixierung auf den NC bei der Studienzulassung halte ich für falsch. Ich kenne durchaus ärztliche Persönlichkeiten, die mit einem schlechteren Notendurchschnitt sehr gute Ärzte geworden sind. Es braucht andere Auswahlverfahren für interessierte Medizinstudierende. Die Lösung kann ich an dieser Stelle leider ad hoc nicht aus der Schublade ziehen.

Es scheint, als würden in der Medizin Persönlichkeiten gefördert werden, die nur schneller, höher, weiter, wollen. Und zwar ohne darauf zu achten, welche sozialen Kompetenzen sie mitbringen. Um den Kreis zu schließen: Ein Notendurchschnitt von 1.0 wird Fähigkeiten wie Empathie, menschliche Zuwendung und persönliches Gespräch nicht unbedingt ersetzen oder garantieren. Besitze ich hingegen diese Fähigkeiten, werde ich ein Vertrauensverhältnis zu meinen Klienten und Patienten aufbauen können und bin auch zukünftig gegenüber einer KI in einer ganz anderen Position. Denn KI wird wesentlich stärker eine Rolle spielen als es viele von uns denken. Dadurch wird das Berufsbild des Arbeitsmediziners zukunftssicherer.

Wie können wir Mediziner oder auch Medizinstudierende davon überzeugen in die Arbeitsmedizin zu wechseln? 

Die Arbeitsmedizin ist vor allem bei Medizinstudierenden noch immer eher unbekannt. Man müsste die Vorlesungen im Fach Arbeitsmedizin interessanter gestalten. Weg von der klassischen Bergarbeiter-Lungen-Sicht, die häufig immer noch im Vordergrund steht.

Den Studierenden sollte die große und spannende Bandbreite der modernen Arbeitsmedizin stärker vermittelt werden, um sie damit besser abzuholen. Leider sind arbeitsmedizinische Lehrstühle in vielen Universitäten wegreduziert worden. Früher gab es viel mehr Institute für Arbeitsmedizin an den Universitäten. Dahin müssen wir wieder zurück und die universitäre Arbeitsmedizin in den Vorlesungen so interessant gestalten, dass Studierende motiviert werden, dort hineinzuschnuppern. Das wäre mein Petitum. Es sei denn, jemand möchte von vornherein in die Forschung. Das ist dann was anderes.

Das Ziel sollte jedoch nicht sein, unmittelbar nach dem Studium in die Arbeitsmedizin zu gehen. Das ist eher ungewöhnlich, auch weil eine klinische Basis wie die Innere Medizin oder auch andere klinische Fachrichtungen mit unmittelbarer Patientenversorgung Voraussetzung ist. Darauf kann die Arbeitsmedizin aufgebaut werden. Ein gutes klinisches Basiswissen brauche ich für die Arbeitsmedizin, um Notfälle wie zum Beispiel eine Blinddarmentzündung sicher zu erkennen und weiterzuleiten. Die Kombination aus rein präventiver und teilweise auch kurativer Medizin macht das Fachgebiet interessant. Bei BASF wurde zum Beispiel ein großes medizinisches Versorgungszentrum aufgebaut, das beides abdeckt. Dort können ähnlich einer niedergelassenen Praxis Mitarbeitende auch im Sinne der Hausarztmedizin versorgt werden.

Hospitation in der Arbeitsmedizin

Der Ausbau von Hospitationsmöglichkeiten in der Arbeitsmedizin sowohl für Studierende als auch für Weiterbildungsassistenten wäre auch eine gute Möglichkeit Interesse zu wecken. Genauso müsste der Weiterbildungskatalog für Arbeitsmedizin noch einmal kritisch hinterfragt werden. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, ihn zu entschlacken? Auch hier sollte der Wandel unserer Arbeitswelt stärker berücksichtigt werden.

Gern möchte ich noch notwendige Skills ergänzen, die Kollegen oder Kolleginnen in der Arbeitsmedizin brauchen. Wenn ich als Arbeitsmediziner unterwegs bin, muss ich in der Lage sein, mit Betriebswirten, Physikern, Juristen, Mathematikern auf Augenhöhe zu diskutieren. Im Krankenhaus diskutiere ich in der Regel mit dem Chirurgen von der Nachbarstation oder mit dem Internisten. Ich bewege mich im Medizinkosmos. Als Betriebsarzt bewege ich mich in einem komplett anderen Kontext. Hier muss ich in der Lage sein, mit anderen Berufsgruppen zu diskutieren und die medizinische Sicht zu vertreten.

Während der Corona-Pandemie war ich Mitglied im Krisenstab und hatte die Aufgabe, dem Management die medizinische Sicht zu verdeutlichen. Hier habe ich eine große Wertschätzung erlebt, da der Kreis ansonsten nur aus Juristen, Betriebswirten und Mathematikern bestand. Diese hatten naturgemäß ihre „eigene Brille“ auf und waren dankbar über die so wichtigen medizinischen Hinweise und Perspektiven.

Arbeitsmediziner müssen auch berufsfremden Gruppen ihre Sicht klarmachen können. Und zwar so, dass sie jeder versteht. Es ist sehr wichtig, dass sie in der Lage sind, eine klare und verständliche Kommunikation führen zu können.

Was empfehlen Sie Kollegen, die über den Schritt nachdenken, in die Arbeitsmedizin zu wechseln?

Ich würde Kollegen und Kolleginnen, die einen Wechsel in die Arbeitsmedizin in Erwägung ziehen, raten, sich nicht davor zu scheuen, sich in spannende Themen einzuarbeiten und sich darin zu Experten zu entwickeln. Diese Expertise bildet die Grundlage, um das Management oder Kunden fundiert und selbstbewusst beraten zu können. Zwar bin ich kein großer Fan des Begriffs „Coach“, da er meiner Meinung nach zu oft verwendet wird, aber in gewisser Weise kommt unsere Rolle dem eines Coaches nahe. Anders als der allgemeine „Coach“ haben wir Betriebsärzte eine solide Ausbildung, die uns eine qualifizierte Basis für die Beratung unserer Kunden bietet. Wir bringen das nötige Fachwissen mit.

Des Weiteren empfehle ich, die eigene Sichtbarkeit und das Eigenmarketing zu verbessern. Plattformen wie LinkedIn bieten eine hervorragende Möglichkeit, die eigene Expertise einem breiteren Publikum zu präsentieren und die Wahrnehmung zu steigern. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass Beiträge auf LinkedIn teilweise mehr Beachtung finden als im internen Netzwerk des Unternehmens. Es wird geschätzt, wenn man sich authentisch präsentiert und die gleiche Persönlichkeit online wie offline zeigt.

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