Höhere Gesundheits-Chancen durch die Verzahnung aller Akteure

Welche Idee genau dahintersteckt, beschreibt Detlef Hollmann, Bertelsmann Stiftung im Interview

Zur Person

Detlef Hollmann ist Diplom-Soziologe und seit 17 Jahren bei der Bertelsmann Stiftung als Senior Projektmanager im Programm „Unternehmenskultur“ tätig.

Herr Hollmann,  Sie beschäftigen sich seit geraumer Zeit intensiv mit dem Thema „Verbesserung von Präventionsarbeit in Unternehmen durch ein koordiniertes Miteinander aller Akteure im Gesundheitssystem“. Und vertreten zudem folgende These:

„Eine stärkere Einbindung der Betriebsmediziner in das Gesundheitsversorgungssystem führt im Endeffekt zu zufriedeneren und gesünderen Mitarbeitern in den Betrieben“. Was genau meinen Sie damit?

Die betrieblichen Präventionsbemühungen, die Angebote niedergelassener Ärzte sowie anderer Leistungserbringer im Gesundheitssystem, wie etwa Rehabilitationseinrichtungen fügen sich in Deutschland nicht zu einem großen Ganzen zusammen.

Das ist ein Problem, das zwar nicht nur in der Bundesrepublik besteht – doch während es in anderen EU-Staaten, wie z.B. in den Niederlanden, mehr oder weniger erfolgreiche Bestrebungen gab, die Zusammenarbeit zwischen Betriebsärzten und niedergelassenen Ärzten zu intensivieren, wurden hierzulande bislang kaum nennenswerte Initiativen eingeleitet. Obwohl auch im Rahmen der gegenwärtigen Strukturen eine bessere Kooperation der Leistungserbringer möglich wäre. Das finden wir sehr bedauerlich und sollte u.E. geändert werden.

 

Wie sieht denn die aktuelle Situation konkret aus? Wo stehen wir heute?

Es wird zwar durchaus bereits darüber diskutiert, dass das koordinierte Miteinander der Akteure im Gesundheitssystem zu besseren Behandlungsergebnissen und auch zu Entlastungen der Sozialkassen führen kann. Doch bei allen Bemühungen einer integrierten Versorgung wird die Berufsgruppe der Betriebsärzte weitgehend außer Acht gelassen, obwohl gerade sie einen wirksamen Beitrag zur Prävention von Krankheiten leisten.

In aller Regel ist der Hausarzt die erste Anlaufstelle für Menschen, die aufgrund Ihrer Gesundheit den Arbeitsalltag nicht mehr bewältigen können. Doch die behandelnden Ärzte wissen meist nur wenig über das Arbeitsumfeld ihrer Patienten.

Das ist besonders problematisch, da die Zahl der psychischen Erkrankungen von Arbeitnehmern kontinuierlich ansteigt – und die Risiken rund um den Arbeitsplatz dementsprechend stärker in den Fokus der Gesundheitsversorgung rücken. Schon länger fordern Experten deshalb, dass die Kooperation zwischen den niedergelassenen Ärzten und dem betrieblichen Gesundheitsmanagement von Unternehmen verbessert werden muss.

 

Warum finden diese Anforderungen, Ihrer Meinung nach, so wenig Gehör?

Betrachtet man das deutsche Gesundheitssystem vor dem Hintergrund dieser Forderung, zeigen sich in Deutschland systembedingte Unzulänglichkeiten: Wenig Anreize und divergierende Interessenslagen von Arbeitgebern, Ärzten, Krankenversicherungen sowie von Versicherten. Dabei fällt besonders auf, dass

  • Hausärzte in der Regel wenig über die Arbeitsbedingungen ihrer Patienten wissen,
  • Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen und Erkrankungen häufig nicht erkannt werden,
  • eine frühe Wiedereingliederung nach einer Krankheit sich oft kompliziert gestaltet

 

Welche Ansatzpunkte gibt es, dieses Dilemma zu lösen?

Für eine erste Annäherung an diese Frage hilft ein vielleicht Blick in die Niederlande:

Anders als in der BRD haben die Arbeitsmediziner hier die alleinige Verantwortung für den Return-to-work-Prozess. Er wird vom Arbeitgeber finanziert, kümmert sich frühzeitig um den Kontakt zum Erkrankten und begleitet ihn zurück in den Job. Die Arbeitsmediziner bescheinigen die Arbeitsunfähigkeit. Verantwortung und Interesse für die schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz obliegt dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber, der wiederum zwei Jahre lang eine Lohnfortzahlung bei Krankheit leistet.

Anders in Deutschland: Der Arzt, der während der Erkrankung einen engen Kontakt zum Patienten hat, ist der Hausarzt oder ein anderer behandelnder Facharzt. Diese haben in der Regel keinen Anreiz den Patienten frühzeitig wieder in den Arbeitsprozess zurückzubringen. Auch kennen sie die Gegebenheiten des Arbeitsplatzes nicht und eine Zusammenarbeit mit dem Betriebsarzt findet meistens nicht statt. Zwar gibt es in Deutschland ein Gesetz zur Wiedereingliederung Erkrankter in den Arbeitsprozess. Ob das daraus resultierende verpflichtende „betriebliche Wiedereingliederungsmanagement“ bei den Unternehmen flächendeckend eingeführt wurde, ist schwierig zu sagen. Hier werden insbesondere die größeren Unternehmen die Nase vorn haben.

Dabei könnte die systematische Vernetzung von niedergelassenen Ärzten und Betriebsärzten in Verbindung mit arbeitsplatznahen Angeboten der Gesundheitsvorsorge bzw. -Versorgung eine bessere Wiedereingliederung von Langzeiterkrankten zur Folge haben. Mitunter könnten sogar Frühverrentungen verhindert werden.

 

Das bedeutet also, eine engere Verzahnung von Betriebsärzten und niedergelassenen Ärzten ist nicht nur aus Sicht der Unternehmen interessant, sondern auch volkswirtschaftlich von großem Nutzen?

Ich würde sogar behaupten, Prävention ist ohne Alternative

Zur Stärkung der betrieblichen Prävention in deutschen Unternehmen gibt es angesichts des demografischen Wandels, des zunehmenden Fachkräftemangels und der steigenden Krankheitskosten weder aus betrieblicher noch aus volkswirtschaftlicher Perspektive eine Alternative. Aus betrieblicher Sicht ist sie unumgänglich, um die Mitarbeiterproduktivität und Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Sie ist somit eine lohnende Investition in die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens.

Volkswirtschaftlich betrachtet, verbessert die betriebliche Gesundheitsvorsorge nachhaltig die Kosten-Nutzen-Relation im Versorgungssystem und ist damit der Schlüssel zur Eindämmung steigender Gesundheitsausgaben.

Um ein angemessenes Nebeneinander der heilenden und der vorsorgenden Medizin zu entwickeln, gilt es, Handlungsblockaden,Informationsdefizite und Eigenlogiken von Politik, Unternehmen, Krankenkassen, Ärzten und Mitarbeitern zu überwinden und eine stärkere Zusammenarbeit zu fördern.

Therapietreue: Ressourcen sinnvoll eingesetzt

Welche konkreten Vorteile würden sich daraus ergeben?

Die Vorteile einer arbeitsplatznahen Vorsorge und Versorgung liegen auf der Hand. Sind Risiken, wie beispielsweise Bluthochdruck, mit Medikamenten kontrollierbar, kann der Versicherte schnell an einen niedergelassenen Arzt überwiesen werden. Die medikamentöse Einstellung erfolgt kurzfristig und kann Schlimmeres verhindern. Je  eher ein Risikofaktor erkannt  wird, desto besser ist der Ausbruch von Krankheiten vermeidbar  – und desto schneller erhöhen sich die  persönliche Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden.

Eine enge Zusammenarbeit zwischen Betriebsärzten und Hausärzten unterstützt den Patienten, begleitet ihn während einer Therapie durch arbeitsplatznahe Kontrolluntersuchungen und Beratung. Unterstützende Angebote eines betrieblichen Gesundheits- und Sportprogramms wirken sich positiv auf die Gesundheit der Beschäftigten aus.

Aber wenn es für alle ausschließlich eine Win-Win Situation ergibt – warum ist es dann so schwierig, die notwendige Zusammenarbeit einzuführen und auszubauen? Woran hapert es?

Die Zusammenarbeit von Betriebsärzten und Hausärzten in Deutschland – so das Ergebnis einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung, die wir durchgeführt haben –  ist insgesamt betrachtet unzureichend. Und das hat nach Meinung von Experten unter anderem folgende Gründe:

  • Die Sphären von niedergelassenen Ärzten und Betriebsärzten sind politisch und strukturell streng getrennt, was sich unter anderem auch in der unterschiedlichen ministerialen Zuständigkeiten (BMAS/BMG) von arbeitsmedizinischer Präventionstätigkeit und dem hausärztlichen kurativen Schwerpunkt äußert.
  • Wo eine Zusammenarbeit angestrebt wird, fehlen oft die Anreize, den Mehraufwand tatsächlich in Kauf zu nehmen. Niedergelassene Ärzte haben keinen (finanziellen) Vorteil, wenn sie mit dem Betriebsarzt Kontakt aufnehmen.
  • Teilweise werden die Betriebsärzte von den niedergelassenen Kollegen als Konkurrenten wahrgenommen, beispielweise wenn es um die Durchführung von Impfungen oder Gesundheits-Checks geht.
  • Dadurch, dass die Betriebsärzte von den Unternehmen bezahlt werden, besteht bei den Mitarbeitern teilweise die Befürchtung, sie würden zu sehr die Interessen des Betriebs und weniger die der Mitarbeiter/Patienten verfolgen.

Was wäre Ihrer Meinung nach nun zu tun? Womit könnten Anreize für die beiden Ärztegruppen geschaffen werden, um die notwendige Zusammenarbeit zu fördern

Das Ziel ist eine konsequente Nutzung des Settings „Betrieb“. Mitarbeiter können im Betrieb „abgeholt“ werden und bestehende betriebliche Strukturen genutzt werden. Das verkürzt Wege, kann Kosten reduzieren und Synergieeffekte auslösen.

Um die Kooperation zwischen Betriebsärzten und niedergelassenen Ärzten zu stärken, sollten Maßnahmen vorgesehen werden, die vertrauensbildend wirken.

  • Im Sinne einer „Plattformstrategie“ könnten regelmäßige Treffen unter dem Dach des Unternehmens, auch in Kooperation mit den Krankenversicherungen, durchgeführt werden.
  • Regelmäßige Kontakte zischen Betriebsarzt und Hausarzt sollten institutionalisiert und formalisiert werden. Erstrebenswert ist eine möglichst normierte und verlässliche Zusammenarbeit zwischen den Akteuren.

Dazu haben wir als Bertelsmann Stiftung Vorschläge erarbeitet: Einfache Pfade, geringer Dokumentationsaufwand und klare Abläufe. 

Im Mittelpunkt steht eine Kombination aus Gesundheitsförderung und indikationsbezogener Prävention:

  • Indikationsbezogene Risikofaktoren werden im Rahmen von Screenings und Check-ups systematisch erfasst und minimiert.
  • Der indikationsunspezifische salutogenetische Ansatz wird im Rahmen der übergreifenden Gesundheitsförderung angewandt, um die protektiven psychosozialen Ressourcen zu stärken.
  • Und eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention beschränkt sich ausdrücklich nicht auf ergonomische Maßnahmen und Unfallvermeidungsstrategien. Vielmehr umfasst sie auch Maßnahmen, die eine gesunde Organisation entwickeln helfen und damit die salutogenen psychosozialen Faktoren stärken.

Ihr Fazit?

Eine bessere Kooperation von Betriebsärzten und niedergelassenen Ärzten führt zu einer erheblich verbesserten Versorgungsqualität der Patienten. Dies gilt insbesondere für die Behandlung von Krankheiten, die direkt mit Belastungen am Arbeitsplatz zusammenhängen. Aber auch in präventiver Hinsicht birgt eine Zusammenarbeit große Potenziale. Und zwar sowohl was die frühzeitige Vermeidung von Krankheiten betrifft, die durch Belastungen am Arbeitsplatz begünstigt werden, als auch im Rahmen klassischer Vorsorgeuntersuchungen, die von Hausärzten und Betriebsärzten gleichermaßen durchgeführt werden könnten.

Kann denn eine einzelne Einheit schon etwas tun, um die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten vor Ort zu intensivieren? Was würden Sie den Betriebsärzten bzw. Arbeitsmedizinern dazu empfehlen? Oder ist es notwendig, die Politik und Krankenversicherungen mit an den Tisch zu holen? Wenn ja, wie könnte das gehen und wer sollte hier das Zepter in die Hand nehmen?

Am ehesten könnten hier die Betriebsärzte erste Schritte initiieren und ihre niedergelassenen Kollegen aus der Region zum Bespiel zum einem Informationsabend einladen, in einer Werksbesichtigung einen Eindruck über die die Arbeitsbedingen geben und über die im Betrieb stattfindenden Präventionsmaßnahmen informieren. Im lockeren Rahmen könnte man Vorbehalte abbauen und für „kurze Dienstwege“ werben.

 

Vielen Dank für das Interview!