Ist Führungsstärke erlernbar?

Warum „Dominanzgehabe“ nichts mit Führungsstärke gemein hat

Führungsqualität ist ein buntes Geflecht aus vielen unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Dazu gehören unter anderem neben Selbstreflexion, Begeisterungsfähigkeit und Empathie natürlich auch die fachliche Kompetenz. Letztere nimmt dabei nur einen verhältnismäßig kleinen Teil ein.

Warum ist Führungsstärke bei Führungskräften wichtig?

Ich möchte die Frage anhand eines anschaulichen Beispiels aus dem Vertrieb beantworten. Früher wurde oft der beste Verkäufer einer Vertriebsabteilung zum Verkaufsleiter ernannt. Dies erschien logisch, da man damals dachte, dass der beste Verkäufer am besten geeignet sei, eine Abteilung zu führen. Dieser Gedanke ist nicht grundsätzlich falsch. Der beste Verkäufer kann in Einzelfällen durchaus auch Führungsqualitäten besitzen und als solche in dieser Position Spitzenleistung erbringen.

In der Regel sieht es anders aus und man läuft Gefahr, den besten Verkäufer als berühmt-berüchtigten „Bock“ zum Gärtner zu machen. In dem Moment verliert man den besten Verkäufer und gewinnt zum Dank zusätzlich eine schlechte Führungskraft. Das ist sicherlich kein wünschenswerter Tausch!

Was verstehen wir unter Führungsstärke?

Hier müssen wir uns fragen, was Führungsstärke bedeutet. Führungsstärke hat nichts mit körperlicher Stärke, Gewichtheben oder Dominanz zu tun. Ganz im Gegenteil kann Führungsstärke sogar bedeuten, sich zurückzunehmen und Entscheidungen der Gruppe, des Teams oder des einzelnen Mitarbeitenden zu überlassen. Wenn ich als Führungskraft meinen Einfluss und Druck unvermittelt reduziere, erhalten Mitarbeitende die Chance ihre eigenen Ideen einbringen und umsetzen zu können. Auch wenn sie vorher gewohnt waren, Befehlen zu folgen. In vielen Fällen merken sie plötzlich, dass ihre Vorschläge sogar besser funktionieren als die bisherigen Vorgaben. Eine starke Führungskraft ist in der Lage, Mitarbeitende zu Eigenmotivation und Eigenverantwortung zu bewegen. Sie stellt sich Herausforderungen und schwierigen Situationen und schafft es dadurch, Konflikte aufzulösen und das Beste aus den Mitarbeitenden herauszuholen. Gleichzeitig sorgt sie für ein unterstützendes und motivierendes Umfeld, in dem Mitarbeitende ihr volles Potenzial entfalten können.

Ist Führungsstärke ein klug gewählter Begriff?

Der Begriff „Führungsstärke“ impliziert, dass ich stärker bin und lauter rufen kann als der Rest. Nur dann hören Mitarbeitende zu und führen meine Anweisungen blind aus, ohne darüber nachzudenken oder sie zu hinterfragen. Der Stärkste führt das Rudel, und wenn das Rudel nicht funktioniert, finde ich überzeugende Argumente, um es zum Laufen zu bringen. In der Tierwelt mag das stimmen. In der heutigen Arbeitswelt ist es nachweislich längst überholt. Vielleicht sollte der Begriff „Führungsstärke“ grundsätzlich infrage gestellt werden.

Führung ist eine komplexe Angelegenheit

Führungskräfte verantworten neben großen strategischen Themen wie Ziele zu definieren, das Unternehmen auf Erfolgskurs zu bringen auch die Steuerung ihrer Teams. Hier geht es weniger um Dominanz, sondern um die Fähigkeit zu moderieren, zu beobachten und zu erkennen welche Charaktere zum Team gehören. Empathie spielt eine wichtige Rolle. Es geht darum die Fähigkeit zu haben Menschen als Individuum wahrnehmen zu können und dabei ihre Bedürfnisse und Gefühle zu verstehen. Empathie ermöglicht einer Führungskraft, sich in die Lage anderer zu versetzen und eine unterstützende und förderliche Umgebung zu schaffen.

Befindet sich ein Mitarbeiter privat in einer schwierigen Phase, zum Beispiel aufgrund eines Trauerfalls, muss darauf unbedingt Rücksicht genommen werden. Eine Führungskraft sollte verstehen, dass Probleme dieser Art Vorrang haben. Anstatt sie zu ignorieren, müssen die Themen angesprochen werden. Gemeinsam wird der Umgang geklärt und sich die Zeit genommen, die es braucht. Erst wenn sie gelöst sind, können wir erwarten, dass der betroffene Mitarbeitende zur Tagesordnung und zur gewohnten Leistungsfähigkeit zurückkehrt.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Menschen per „Order de Mufti“ zu Handlungen aufzufordern, kann in außergewöhnlichen Situationen allerdings durchaus richtig sein. Zum Beispiel bei einem Unfall, wenn verletzte Personen auf der Straße liegen und zehn Menschen im Schock erstarrt um sie herumstehen. In solchen Situationen ist es sehr sinnvoll, ohne Diskussion klare Anweisungen zu erteilen: „Du nimmst die Decke und legst sie unter den Verletzten. Du bringst die Verletzte in die stabile Seitenlage und behälst im Blick, ob sie weiterhin atmet“. An dieser Stelle können klare Befehle sogar lebenswichtig sein.

Welche Fähigkeiten und Eigenschaften charakterisieren Führungsstärke?

Hier folgen aus meiner Sicht die wichtigsten acht Fähigkeiten und Eigenschaften, die ein erfolgreicher Leader mitbringen sollte:

  1. Reflexionsfähigkeit: Ein Leader sollte in der Lage sein, sich selbst zu hinterfragen und bewusst zu machen, wie sich sein Verhalten auf andere Menschen auswirkt. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ermöglicht es, das eigene Verhalten zu verbessern und sich weiterzuentwickeln.
  2. Selbstbewusstsein: Leader sollten ein gesundes Selbstvertrauen haben und an sich selbst und ihren Fähigkeiten glauben. Selbstbewusstsein hilft dabei, Entscheidungen zu treffen und schwierige Situationen zu bewältigen.
  3. Offenheit: Leader sollten offen sein für verschiedene Arbeitsweisen und die Vielfalt der Persönlichkeiten von Menschen. Das bedeutet, andere Meinungen anzuhören, alternative Lösungsansätze zu berücksichtigen und ein Umfeld zu schaffen, in dem unterschiedliche Ideen willkommen sind.
  4. Weiterbildung: Ein Leader sollte bestrebt sein, sich kontinuierlich weiterzubilden, sowohl in Bezug auf Führungskompetenzen als auch in Bezug auf persönliche Entwicklung. Durch die Weiterbildung kann ein Leader seine Fähigkeiten stärken und auf dem neuesten Stand bleiben.
  5. Kommunikationsfähigkeit: Eine vertrauensvolle Kommunikation ist für einen Leader von zentraler Bedeutung. Ein Leader sollte in der Lage sein, klar zu kommunizieren, Ziele und Erwartungen zu vermitteln und Mitarbeiter zu motivieren. Gleichzeitig sollte ein Leader auch ein guter Zuhörer sein und die Bedürfnisse und Anliegen seiner Mitarbeiter ernst nehmen.
  6. Empathie: Empathie ermöglicht es einem Leader, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen, ihre Perspektiven zu verstehen und mitfühlend zu reagieren. Dies fördert ein positives Arbeitsklima, stärkt das Vertrauen der Mitarbeiter und erleichtert die Zusammenarbeit.
  7. Entscheidungsfähigkeit: Ein Leader muss in der Lage sein, fundierte Entscheidungen zu treffen, auch in komplexen oder unsicheren Situationen. Dabei ist es wichtig, Informationen zu sammeln, verschiedene Optionen abzuwägen und die Auswirkungen der Entscheidungen zu bedenken.
  8. Teamorientierung: Ein Leader sollte die Fähigkeit haben, Teams zu führen und zu motivieren. Dies beinhaltet die Fähigkeit, Mitarbeiter zu inspirieren, ihre Stärken zu erkennen und zu fördern, Konflikte zu lösen und gemeinsame Ziele zu erreichen.

Diese Liste ist als Auszug zu verstehen. Es gibt natürlich noch weitere Fähigkeiten und Eigenschaften, die für einen Leader wichtig sein können. Jeder Leader entwickelt im Laufe seiner Karriere seinen eigenen Führungsstil.

Kann jeder Führungsstärke erlangen? Kann es jeder lernen?

Es gibt sicherlich Naturtalente, die ihre Fähigkeiten intuitiv richtig einsetzen und damit erfolgreich ihr Team führen. Das ist aber eher selten der Fall. Dennoch können bestimmte Eigenschaften den Einstieg in eine Führungsrolle durchaus erleichtern. Dazu gehören Offenheit, Reflexionsfähigkeit und eine Werthaltung. Jemand der weniger natürliche Talente hat, kann durch gezieltes Training und Weiterentwicklung in die Führungsrolle hineinwachsen. Jeder, der es wirklich möchte, kann im Coaching Führungsinstrumente erlernen, um besser zu werden. Ideal an dieser Stelle sind vermutlich Menschen, die viele Fähigkeiten von Natur aus schon mitbringen und mit passenden Weiterentwicklungsmaßnahmen ergänzen.

Voraussetzung ist der Wille und die Bereitschaft, sich mit der Komplexität von Führung auseinanderzusetzen. Die Aufgabe zu führen ist oftmals sehr herausfordernd und niemand kann immer alles richtig machen. Es erfordert auch die Fähigkeit, mit Enttäuschungen und unterschiedlichen Erwartungen umzugehen.

Letztendlich ist Führung ein facettenreiches Thema, und es gibt verschiedene Wege, um in der Führung erfolgreich zu sein. Offenheit für persönliche Entwicklung, kontinuierliches Lernen und die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten, sind wichtige Aspekte, die bei der Entwicklung von Führungsqualitäten berücksichtigt werden sollten.

Darüber hinaus können Unternehmen ihren Mitarbeitern auch andere Unterstützungsmöglichkeiten bieten, um Führungsstärke zu entwickeln. Hier sind einige Ansätze:

  1. Mentoring-Programme: Unternehmen können Mentoring-Programme einführen, bei denen erfahrene Führungskräfte ihre Kenntnisse und Erfahrungen an aufstrebende Führungskräfte weitergeben. Durch regelmäßige Treffen und den Austausch von Wissen und Ratschlägen können die Teilnehmer ihre Führungsfähigkeiten verbessern.
  2. Weiterbildungsmöglichkeiten: Unternehmen können Schulungen, Workshops und Seminare zu verschiedenen Führungsthemen anbieten. Diese Schulungen können den Mitarbeitern helfen, ihre Fähigkeiten in Bereichen wie Kommunikation, Konfliktlösung, Mitarbeitermotivation und Zeitmanagement zu verbessern.
  3. Feedback-Kultur: Eine offene Feedback-Kultur ist wichtig, um Führungskräften ein konstruktives Feedback zu geben. Mitarbeitende sollten die Möglichkeit haben, ihre Meinungen, Ideen und Bedenken zu äußern, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Dies ermöglicht den Führungskräften, ihr Verhalten und ihre Entscheidungsprozesse zu überdenken und zu verbessern.
  4. Aufstiegschancen und Verantwortung: Unternehmen können ihren Mitarbeitern Aufstiegschancen und neue Verantwortungsbereiche bieten, um ihre Führungsfähigkeiten zu fördern. Durch die Übertragung von Projektleitungsaufgaben oder die Möglichkeit, Teams zu führen, können Mitarbeitende ihre Führungsqualitäten entwickeln und praktische Erfahrungen sammeln.
  5. Unterstützung bei der Selbstreflexion: Unternehmen können Ressourcen und Tools bereitstellen, die den Mitarbeitenden helfen, sich selbst zu reflektieren und ihre Führungsqualitäten zu bewerten. Dies kann beispielsweise die Nutzung von Persönlichkeitsprofilen, 360-Grad-Feedback oder Selbstbewertungsübungen umfassen.

Es ist wichtig zu beachten, dass Führungsentwicklung ein kontinuierlicher Prozess ist und Zeit, Engagement und Unterstützung erfordert. Unternehmen sollten die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden identifizieren und individuelle Entwicklungspläne erstellen, um ihnen bei der Verbesserung ihrer Führungsfähigkeiten zu helfen.

Fazit

Meines Erachtens gilt es den Begriff Führungsstärke an dieser Stelle zu überdenken. Stärke impliziert dominantes Auftreten, ohne meinem Gegenüber Raum für eigene Ansichten und Meinungen zu geben. Dieses bestimmende Verhalten kann sicherlich kurzfristigen Gehorsam erzwingen. Aber reicht mir das?

Lieber möchte ich doch aber als engagierter Leader meine Mitarbeitenden dazu motivieren, langfristig ihr gesamtes Potenzial zu entfalten und eigene Ideen und Lösungen zu entwickeln. Wer sagt denn, dass nur der Chef respektive die Chefin weiß, wie „es am besten geht“? Als Führungskraft sollte ich also in der Lage sein, die individuelle Situation der Mitarbeitenden zu erkennen und flexibel darauf zu reagieren. Starre Vorgaben oder Regeln sind hier jedenfalls völlig fehl am Platz.

Gute und gesunde Führung erfordert vielmehr die Bereitschaft und den Mut der Führungskraft, sich regelmäßig zu reflektieren. Jeder, der diese Bereitschaft mitbringt, wird lernen seine Fähigkeiten zukünftig optimal einsetzen können.