Was ist besser? Übernahme versus Neugründung einer eigenen Praxis

In unserer Serie Experten-Talk konnten wir gleich zwei spannende Gesprächspartner gewinnen. Zum einen Dr. med. Michael Sehling, der Anfang der 1990er Jahre eine Arztpraxis gründete und diese seit knapp 28 erfolgreich führt. Zum anderen PD Dr. Jan Bauer, der sich entschieden hat, in diese Praxis einzusteigen. Beide berichten uns von ihren Beweggründen und Perspektiven auf diese Praxis.

Dr. med. Michael Sehling, Facharzt für Allgemeinmedizin, Arbeitsmedizin und Sportmedizin. Zusatzausbildung in Reise- und Verkehrsmedizin. Seit knapp 28 Jahren selbstständig tätig mit eigener Praxis. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und liebt Autos. Im Besonderen sowohl Young- als auch Oldtimer.

 

 

 

PD Dr. Jan Bauer, 34 Jahre, Facharzt für Arbeitsmedizin mit Zusatzbezeichnung Notfallmedizin, verheiratet, noch  keine Kinder. In seiner Freizeit geht er gern Joggen in der Natur „zum Kopf frei kriegen“ und hört gern Musik. Eigentlich querbeet, aber am liebsten elektronische Musik.

 

Dr. Sehling, viele Wege führen nach Rom oder in die Arbeitsmedizin. Wie war Ihrer?

Nach dem Studium der Humanmedizin begann ich als Arzt in der Inneren Medizin. Das war 1984, als es die sogenannte Ärzteschwemme gab. Für mich war es ein Privileg, hier im Raum Heidelberg/Mannheim eine Stelle zu finden. Heute ist die Situation eine andere. Heute können die jungen Kolleg*innen auswählen, in welcher Klinik sie nach dem Studium anfangen möchten.

Ich startete damals in einer kleinen Klinik mit einer enorm hohen Arbeitsbelastung. Wir waren sechs Assistent*innen und mussten die gesamten Nacht- und Wochenenddienste übernehmen. Das überstieg auf Dauer meine Kräfte und nach zweieinhalb Jahren beschloss ich zu wechseln. Und zwar dorthin, wo weniger Überstunden zu erwarten waren.

1986 bekam ich ein Angebot vom Institut für Arbeitsmedizin der FU Berlin, was ich damals als sehr verlockend empfand. Wäre es Mikrobiologie oder medizinische Psychologie gewesen, wäre ich dort gelandet. Ich wollte habilitieren und eine Uni-Laufbahn einschlagen, kam allerdings nicht gut mit dem Lehrstuhlinhaber zurecht, sodass ich nach einem Jahr wieder ging. Damit zerschlug sich auch die Hoffnung auf eine akademische Laufbahn.

Das Glück blieb auf meiner Seite und ich konnte anschließend eine Stelle in der inneren Medizin an der medizinischen Poliklinik in Heidelberg beginnen. Für meine Vorstellungen war das eine ideale Stelle, die meine Erfahrungen in der Klinik und Wissenschaft perfekt ergänzte. Hinzu kam, dass ich keine Nachtdienste machen musste. Verdient habe ich zwar nicht so viel, aber hatte dafür wunderbare arbeitstechnische Voraussetzungen.

Während einer Fortbildung zur Fachkunde Rettungsdienst saß ich zufällig neben dem damaligen leitenden Werksarzt von Daimler Benz Werk Mannheim und kam mit ihm ins Gespräch. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und sind im lockeren Kontakt geblieben. Hin und wieder kam er mit fachlichen Fragen zu Themen aus der Sportmedizin und Leistungsphysiologie auf mich zu. Das war damals unsere Spezialität in der Abteilung der medizinischen Poliklinik. Irgendwann hat er mich eingeladen, das Werk in Mannheim anzuschauen. Da ich aufgrund meiner Berliner Erfahrungen in der Arbeitsmedizin nicht unbewandert war, bot er mir eine Stelle an. Das war 1990. Nach der deutsch-deutschen Vereinigung kam die Konjunktur richtig in Fahrt und er konnte mir eine Weiterbildungsstelle einrichten. Aufgrund der hervorragenden Bedingungen habe ich mich nach einer einwöchigen Bedenkzeit entschieden, das Angebot anzunehmen. Ich war 3 Jahre angestellter Werksarzt bei Daimler Benz.

Als die Konjunktur wieder nachließ, wurde meine befristete Stelle in Mannheim aufgelöst. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, für Daimler nach Bremen zu gehen, aber da hat meine Frau interveniert. Wenn Sie in einem Großkonzern nicht flexibel sind, können Sie dort keine Karriere machen, – zumindest nicht in schwierigen Zeiten. Somit verließ ich die Großindustrie.

Wie kamen Sie dazu, eine eigene Praxis zu gründen

Schon länger hatte ich die Vision, eine Hausarztpraxis zu übernehmen oder zu gründen. Nach meinem Weggang von Daimler Benz konkretisierte sich diese Idee. Zeitgleich wurde eine gesetzliche Änderung angekündigt, die Zulassungszahlen von Kassenarztpraxen festschreiben sollte. Das führte dazu, dass ich meine Idee, eine Praxis zu übernehmen, unter hohem Zeitdruck umsetzte. Anfangs noch mit einer Kombination aus hausärztlicher Tätigkeit und Arbeitsmedizin, wobei der Schwerpunkt auf ersterem lag.

Nach drei Jahren wurde die arbeitsmedizinische Betreuung bei den Firmen allerdings so umfangreich, dass ich es nicht mehr nebenbei machen konnte. Ich stand vor der Entscheidung, entweder noch einen Partner mit Kassenzulassung an Bord zu holen oder die Kassenzulassung wieder abzugeben und mit ausschließlich der Arbeitsmedizin weiterzumachen. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Das war 1995.

Dr. Sehling, wie haben Sie es geschafft, Ihre Praxis auf Erfolgskurs zu bringen? Was raten Sie Kolleg*innen?

Das Wichtigste bei einer Unternehmensgründung ist m.E., dass Sie tatsächlich unternehmerisch tätig sein wollen. Mit allen Risiken und Vorteilen. Das bedeutet auch, dass Sie kaufmännisch denken müssen, was viele Ärzt*innen nicht können. Nur wenigen ist es in die Wiege gelegt. Der ärztliche Beruf ist ein helfender Beruf, der in ein bestimmtes System eingebunden ist. Sprich, wenn Sie in der Klinik sind, ist Ihr Aufgabenbereich klar definiert und Sie müssen keine unternehmerische Verantwortung übernehmen.

Wenn Sie in die freie Tätigkeit eintauchen, kommen viele neue Herausforderungen auf Sie zu. Ich habe in der Hausarztpraxis anfangs einiges an Lehrgeld zahlen müssen. Aus meiner Erfahrung heraus gesehen gibt es verschiedene Punkte, die ich immer empfehle:

  • Zum unternehmerischen Denken gehört, dass Sie betriebswirtschaftliche Zahlen betrachten und bewerten müssen. Diese wichtige Voraussetzung müssen Ärzt*innen erst lernen. Das tun Sie entweder mühevoll und mit Verlusten behaftet oder Sie gehen vorher in die Lehre.
  • Strategische Arbeit ist ein sehr wichtiger und nicht zu unterschätzender Aspekt. Für Themen wie Betriebswirtschaft, Kundengewinnung und -bindung, Netzwerkaufbau und Mitarbeiterführung habe ich rund 25 Prozent meiner Zeit freigehalten. In der Regel on top meiner 100-prozentigen operativen Tätigkeit. Manchmal habe ich auch operativ bereits 125 Prozent gearbeitet aus der Sorge heraus, Umsatz könnte wegbrechen. Mit den zusätzlichen 25 Prozent bin ich dann bei 150 Prozent gelandet. Allerdings habe ich immer versucht, die Prozesse im Unternehmen so einfach wie möglich zu halten, um nicht zu viel Zeit für administrative Tätigkeiten aufbringen zu müssen.
  • Wenn ich nicht allein als ärztlicher Alleinunterhalter tätig sein möchte, muss ich Mitarbeitende gewinnen, sie gut führen und für meine Ideen begeistern. Führungsfähigkeit ist an dieser Stelle sehr wichtig.
  • Darüber hinaus muss ich Sicherheit und Kompetenz ausstrahlen, wenn ich in der Arbeitsmedizin gute Kundenbindungen aufbauen und erhalten möchte. Das erfordert Selbstsicherheit. Dafür wiederum ist es notwendig, dass mein Leben auf einer gewissen Ordnung fußt. Wenn ich beispielsweise in einer schwierigen Partnerschaft lebe, werde ich die gestellten Anforderungen nur für eine bestimmte Zeit durchhalten. Eine gute soziale Bindung wie Familie, Freunde und Partnerschaft ist ein wichtiges Thema.
  • Für die Kundengewinnung ist die Bildung eines guten Netzwerkes entscheidend. Ich muss die Region kennen und wissen, welche Unternehmen mich brauchen. Ich halte nichts von Dumpingangeboten oder der kalten Akquisition. Ich hatte es mal versucht, war aber relativ erfolglos. Besser ist es, da anzudocken, wo ich gewünscht bin und gebraucht werde.
  • Es klingt vielleicht merkwürdig, aber es ist wichtig, dass eine medizinische Grundkompetenz in der Arbeitsmedizin vorhanden ist. Ich darf nicht nur zur Arbeitsmedizin beraten. Häufig ist eine ureigene ärztliche Beratung gewünscht, auch wenn es nicht direkt zur Tätigkeitsbeschreibung gehört. Das wiederum bedeutet, dass ich in der Region mit anderen Ärzt*innen vernetzt sein muss. Damit ich jemanden empfehlen kann, falls ich die Kompetenz selbst nicht habe. Das ist ein wichtiges Werkzeug, um den Mehrwert der ärztlichen Tätigkeit in der Arbeitsmedizin zu verdeutlichen. Mehr als zum Beispiel die Sicherheitsfachkraft bieten kann.
  • Zu einem gesunden Unternehmenswachstum gehört m.E. ein langsames organisches Wachstum. Bei mir hat es rund 10 Jahre gedauert, bis die Praxis so groß war, dass wir einigermaßen ordentlich davon leben konnten. Erst ab dem Zeitpunkt lag ich auf dem gleichen Gehaltsniveau, wie damals in der Großindustrie.
  • Das schwierige ist immer, die Aufträge und die Ressourcen im Gleichgewicht zu halten. Eine Balance zu schaffen, um einerseits die Kunden nicht zu enttäuschen und andererseits die Mitarbeiter nicht zu überlasten. Als Unternehmer muss ich oft selbst die Spitzen abfedern und neue Kunden übernehmen. Ich habe im operativen Geschäft immer selbst mitgearbeitet. Das ist auf die Dauer auch anstrengend und birgt die Gefahr der Überlastung.
  • Als selbstständiger Praxisinhaber gehört zu meinen Aufgaben auch, ein Vertrauensverhältnis zu den Kunden aufzubauen. Ich biete eine „Dienstleistung höhere Art“ an, so ist das juristisch definiert. Dieses Vertrauensverhältnis sowohl bei den beauftragenden Unternehmen als auch bei den Mitarbeitenden der zu betreuenden Unternehmen herzustellen, kann nicht von heute auf morgen aufgebaut werden. Ich empfehle den Unternehmen immer, dass eine arbeitsmedizinische Betreuung nur sinnvoll ist, wenn diese über einen längeren Zeitraum stattfindet. Je kleiner das Unternehmen ist, desto länger dauert es in der Regel bis die Kundenbeziehungen gefestigt sind. Und nur so kann die Dienstleistung fruchtbar sein.
  • In meiner ärztlichen Tätigkeit als Arbeitsmediziner bin ich Berater und Dienstleister. Das ist in der kurativen Medizin anders. Als Arzt bin ich eigentlich anders gebrieft und ausgebildet und darauf ausgerichtet, die Expertise für den Patienten mitzudenken. In der Arbeitsmedizin muss ich die Expertise so darlegen, dass der Unternehmer selbst entscheiden kann, was er machen möchte. Ich darf auch nicht darüber verärgert sein, wenn er meiner Empfehlung nicht folgt, sondern anders entscheidet. Damit muss ich zurechtkommen.
  • Ein weiterer Aspekt ist die Fokussierung auf einen bestimmten Bereich. Arbeitsmedizinische Leistung nebenbei anzubieten ist und bleibt „ein nebenbei“. Bei uns in der Praxis liegt der Fokus auf der Arbeitsmedizin. Wir unterscheiden uns hier von jemandem, der alle möglichen Bereiche abdeckt. Ich halte es für äußerst wichtig, sich auf einen Bereich zu konzentrieren und diese Kompetenz auch nach außen zu leben.

Dr. Bauer, wie war es bei Ihnen? Was führte Sie in die Arbeitsmedizin?

Studiert habe ich in Frankfurt und bin durch meine Doktorarbeit zur Arbeitsmedizin gekommen. Am dortigen Institut für Sozial Arbeits- und Umweltmedizin wurde mir direkt nach dem Studium eine Stelle angeboten. Ein Jahr lang war ich als ärztlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl tätig.

Anschließend wählte ich ganz klassisch die Innere Medizin, speziell Gastroenterologie. Im Haus der Maximalversorgung in Offenbach blieb ich drei Jahre. Auch während dieser Zeit habe ich weiter wissenschaftlich gearbeitet, Publikationen vorangetrieben sowie Fördermittel beantragt. Als ein Fördermittelantrag genehmigt wurde, bin ich für ein Jahr wieder zurück an die Uni gegangen. Nach diesem Jahr hatte ich theoretisch den Facharzt für Arbeitsmedizin erreicht. Ursprünglich hatte ich vor, in Offenbach noch meinen Facharzt für Innere Medizin zu machen, blieb dann aber doch an Uni.

In der Zeit stellte sich mir die Frage, wie es für mich zukünftig weitergeht. Arbeitsmedizinisch gesehen hatte ich bisher die wissenschaftliche Seite kennengelernt. Nun wollte ich die praktische Seite ergänzen. Da ich Dr. Sehling zu dem Zeitpunkt bereits kannte, bat ich ihn, die praktische Arbeit in der Arbeitsmedizin bei ihm in der Praxis kennenlernen zu dürfen. Nicht zuletzt wollte ich herausfinden, ob dieses Fachgebiet eines ist, was ich längerfristig machen möchte.

Das war der Anfang. Gestartet mit einem 450-Euro Job über eine Vollzeitbeschäftigung hin zum Partner. Der Facharzt für Innere Medizin ist immer weiter in die Ferne gerückt. Zwischenzeitlich hatte ich den Facharzt für Arbeitsmedizin in der Tasche sowie auch meine Habilitation für das Fach Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin. Das hat mir am Ende dann auch gereicht. Mein Weg führte mich dahin, wo ich jetzt stehe.

Von der Hospitation bis hin zum Praxisinhaber ohne finanzielle Verpflichtungen

War es für Sie immer schon klar, dass Sie sich selbständig machen wollten?

Die grundsätzliche Idee, selbstständig zu arbeiten, gab es schon bevor ich zu Dr. Sehling in die Praxis kam. Zwar noch unspezifisch, mir war jedoch immer schon relativ klar, dass ich nicht dauerhaft als Angestellter tätig sein wollte.

Natürlich gehört auch ein Fünkchen Glück dazu, am richtigen Platz zum richtigen Zeitpunkt zu sein. So wie es bei mir der Fall war. Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass sich immer Möglichkeiten ergeben, wenn ich aktiv bin und etwas wirklich will. Das ist wahrscheinlich eine Grundhaltung, die man in sich trägt. In meinem Fall lief es sehr gut. Auch wenn ich anfangs nicht die Absicht hatte, in diese Praxis einzusteigen. Dass sich das so ausgestaltet hat, hängt sicherlich auch stark mit Michael zusammen. Wir waren von Anfang an fachlich auf einer Linie und passen auch persönlich gut zusammen. Es hat ungefähr ein Jahr gedauert, bis wir uns darüber im Klaren waren, dass wir in diese Richtung gehen wollen.

Dr. Sehling, hatten Sie das Thema Nachfolge im Hinterkopf, als Sie Dr. Bauer eingestellt haben?

Nein, überhaupt nicht. Zwar hatte ich ihn tatsächlich früher schon einmal auf der Liste, aber der Zeitpunkt war damals viel zu früh für ihn. Deshalb hatte ich mit dem Gedanken wieder abgeschlossen. Er wollte erst seine akademische Laufbahn weiterverfolgen und dann entscheiden, wohin ihn die Reise führt. Außerdem stand noch der Facharzt für Innere Medizin aus. Ich hatte ihn als Nachfolger oder Partner überhaupt nicht auf dem Schirm. Schon gar nicht während seiner Hospitanz.

Sicherlich sprach unsere Übereinstimmung in vielen Bereichen dafür, aber es musste sich erst noch erweisen und als richtig herausstellen. Zudem hatte Jan noch einige private Entscheidungen zu treffen. Erst als er so weit war, kam das Thema Partnerschaft für mich wieder auf die Agenda.

Dr. Jan Bauer:

Genau. Zu dem Zeitpunkt war ich auch noch zu 100 Prozent in Frankfurt angestellt. Auch wenn die Idee der Selbstständigkeit im Hinterkopf herumspukte, hätte ich die Konsequenzen noch nicht abschätzen können. In der Phase war es für mich wichtiger, die Arbeit in einer arbeitsmedizinischen Praxis richtig kennen zu lernen. Und zu erleben, welche Verantwortung ein selbständiger Praxisinhaber trägt. Das echte “Doing” in der Selbstständigkeit ist etwas völlig anderes als die vielleicht romantisierte Vorstellung von „ich bin mein eigener Chef und kann die Dinge so machen, wie ich sie für richtig halte“. An der Stelle musste definitiv ein Realitycheck erfolgen. Im Hintergrund entwickelte sich die Idee innerhalb des Jahres immer weiter.

„Ist solch ein Alltag wirklich das, was ich mir für mein Berufsleben wünsche?“

Dieses Jahr war absolut notwendig. Hätten wir von Anfang an diesen Plan verfolgt, wäre es vielleicht gar nicht dazu gekommen. Ich glaube, so wie es gelaufen ist, war es genau richtig. Auf jeden Fall für mich. Ich konnte mich ganz ohne Druck, Erwartungshaltung oder auch Bedingungen freiwillig aus mir selbst heraus dorthin entwickeln, wo ich angekommen bin.

Dr. Michael Sehling:

Genau! Dieser Bewusstseinsbildungsprozess war ungeheuer wichtig. Ich möchte jedem, der darüber nachdenkt, sich selbstständig zu machen, dringend empfehlen, sich vor Augen zu führen: Was bedeutet Selbstständigkeit? Entspreche ich den geforderten Vorgaben als Persönlichkeit und als Individuum? Ich denke, diese Prüfungszeit sollte sich jeder selbst geben.

„Einfach eine Praxis aus der Praxisbörse heraussuchen, in der die Zahlen stimmen, etwas verhandeln und dann loslegen, wäre meines Erachtens die völlig falsche Methode.“

Dr. Jan Bauer:

Genau. Selbständigkeit darf nicht verwechselt werden mit einer Tätigkeit wie im Angestelltenverhältnis – nur ohne Chef. Das ist schon etwas anderes. Ich brauche hier ein anderes Mindset und eine andere Herangehensweise als im Angestelltenverhältnis. Im Konzern ist beispielsweise eine Struktur vorhanden, die organisatorische und administrative Themen abdeckt. In der Selbständigkeit muss ich mich selbst darum kümmern. Neben der Akquisition von Kunden oder Mitarbeiterführung muss auch die Vertretungsfrage geklärt sein, wenn ich als Praxisinhaber zum Beispiel in den Urlaub gehe.

Bei uns dauerte dieser Reifungsprozess etwa ein Jahr, bis wir uns beide vorstellen konnten, dass ich in die Praxis einsteige. Anschließend haben wir ein weiteres Jahr an dem Thema gearbeitet. Für mich persönlich war es eine unglaublich spannende Zeit. Plötzlich habe ich die Themen aus einem neuen Blickwinkel betrachtet und bestimmte Fakten und Tatsachen anders beurteilt als vorher. Ich hatte viel Glück, in diese Rolle hineinwachsen zu dürfen und Problemstellungen besser verstehen und verinnerlichen zu können. Dieses zweite Jahr war im Übergabeprozess sehr wichtig für mich. Wir wären nicht da, wo wir jetzt sind.

Vor allem bei den Themen, die zum Back Office gehören: Kundenakquise und die ganzen Finanz- und Abrechnungsthematiken. Oder ganz allgemein der Umgang mit bestimmten Situationen. Ich habe immer versucht, möglichst viel zu lernen, mich immer gefragt, wie ich an dieser Stelle entscheiden würde. Was möchte ich übernehmen und an welcher Stelle würde ich Dinge ändern. In der Phase habe ich festgestellt, dass wir sowohl persönlich als auch fachlich auf einer Linie sind. Letztendlich habe ich sehr viel übernommen.

Haben Sie auch andere Gespräche geführt, Herr Dr. Sehling?

Ich habe schon seit einigen Jahren darüber nachgedacht, die Praxis verkaufen oder abgeben zu wollen. Gleichzeitig war mir bewusst, dass an der Praxis immer auch Mitarbeitende hängen. Deshalb war Teil einer geeigneten Exit-Strategie jemanden für die Nachfolge zu finden, der oder die mein Lebenswerk weiterführt. Es gab mehrere Anläufe und ich habe mit mindestens drei potenziellen Nachfolgern verhandelt. Jedes Mal ist es daran gescheitert, dass es persönlich nicht gepasst hat. Nicht am Preis, sondern an den Zielvorstellungen, wohin die Praxis weiterentwickelt werden sollte. Auch fehlte es an ausreichend Persönlichkeit den Laden führen zu können. Oder an ausreichend Mut, eine Übernahme zu schultern. Es lag niemals an der fachlichen Kompetenz, sondern an anderen Skills, die für eine Selbständigkeit notwendig sind.

Gleichzeitig gab es größere Einheiten, die meine Praxis kaufen wollten. Das hätte das Geschäftsmodell verändert, was wiederum für mich nicht infrage kam. So entschied ich erst einmal weiterzumachen, bis sich eine andere Lösung ergeben würde. Wenn Jan nicht gekommen wäre, hätte ich das Unternehmen wahrscheinlich so weit heruntergefahren, dass die vorhandenen Arbeitsplätze noch erhalten geblieben wären. Ich hätte nicht mehr weiter expandiert, aber dennoch für genügend Arbeit für die Mitarbeitenden gesorgt. Das war meine damalige Strategie.

„Von daher war es eine überaus glückliche Fügung, dass Jan Bauer sich für die Selbständigkeit und Übernahme der Praxis entschieden hat.“

Worüber muss sich einen Arzt, der dieses Interesse hat, bewusst sein, was er mitbringen muss, damit er erfolgreich ist? Ihrer Meinung nach?

Dr. Michael Sehling:

Der vielleicht sogar wichtigste Aspekt ist die Begeisterung für die Selbständigkeit. Sie ist eine Notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung. Sie muss spürbar und da sein. Darüber hinaus sind zahlreiche Eigenschaften als Voraussetzung für eine Selbständigkeit mitzubringen:

  • Es müssen persönliche Charaktereigenschaften wie Führungsausstrahlung vorhanden sein sowie die Bereitschaft, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen.
  • Auch die soziale Ausstrahlung muss stimmen. Das heißt, freundlich, zugewandt und aufmerksam gehe ich auf andere Menschen zu. Sowohl auf die zu betreuenden Mitarbeitenden in den Betrieben als auch auf die Entscheidungsträger in den Betrieben. Sie geben uns unser Mandat und sie sind diejenigen, mit denen wir unser Honorar aushandeln. Mit diesen sozialen Fähigkeiten bin ich in der Lage gute Beziehungen herzustellen. Und zwar mit allen Schichten und Kategorien im Unternehmen.
  • Eine weitere wichtige Voraussetzung ist eine gewisse gesundheitliche Robustheit wie Resilienz und Belastbarkeit. Sowohl körperlich als auch seelischer Natur. Es läuft naturgemäß nicht immer nur alles gut und rund. Das hat sich in der Coronazeit ausgiebig gezeigt. Ich muss belastbar bleiben und auch in schwierigen Zeiten den Kopf über Wasser halten. Den Mitarbeitenden genauso wie den Kunden gegenüber. Es ist wichtig, dass ich auch in schwierigen Zeiten Zuversicht ausstrahle.
  • Im Umgang mit den Kunden muss ich auf Augenhöhe agieren. Nur so bekomme ich deren Akzeptanz und Respekt. Zum Beispiel in den Sitzungen der Krisenstäbe während der Corona Zeit. Diese schwierige Zeit war eine gute Gelegenheit, Jan Bauer zu beobachten und einschätzen zu können. Es war schön zu sehen, wie ruhig und gelassen er die Themen angepackt und welche Sicherheit er dabei nach außen hin ausgestrahlt hat. Durch den Sprung auf die Meta-Ebene konnte er jederzeit den Überblick behalten. Dieses Verhalten hat ihn für die Aufgabe qualifiziert, das Schiff auch in schwierigen Zeiten zu führen. Den anderen Bewerbern haben diese Fähigkeiten gefehlt. Schon in einfachen und guten Zeiten haben sie mich nicht überzeugen können.

Dr. Sehling, worauf ist in einem Übergabeprozess unbedingt zu achten? Was würden Sie anderen Verkauf-Interessierten raten?

Also die erste und wichtigste Frage, die ich mir als Verkäufer stellen sollte: Ist mein Geschäftsmodell, das ich aufgebaut habe, auf den potenziellen Nachfolger, Nachfolgerin oder die Nachfolge-Organisation (wenn man an einen Systemanbieter verkauft), übertragbar? Damit steht und fällt das Ganze. Sowohl aus wirtschaftlicher als auch von der persönlichen Seite. Vor allem dann, wenn ich möchte, dass mein System auch in Zukunft weiterlebt.

Ich habe mich jedes Mal gefragt: Sehe ich in dem Kaufinteressenten jemanden, der meine Vision oder Philosophie fortführt, der dem Ganzen gewachsen ist und der das gleiche Engagement in sich trägt. Ist die Person jemand, die ein ähnliches Ziel vor Augen hat und der das weiterführen kann, was ich aufgebaut habe.

Wobei sich die Ausgestaltung natürlich verändern kann, ja sogar muss. Die arbeitsmedizinische Praxis, die ich verkörpere, ist längst nicht mehr so wie vor 25 Jahren. Themen wie Digitalisierung, Telematik und Telemedizin müssen unbedingt neu aufgenommen werden. Ich sehe es mit Nichten so, dass alles eins zu eins weitergeführt werden muss. Die Unternehmensphilosophie muss stimmen. Dazu gehört im Übrigen immer zu überprüfen, wie wir uns verändern können, damit das Unternehmen marktgerecht bleibt, zur Zeit passt und weiterhin gut läuft.

Bei der Lösung, die wir jetzt haben, bin ich felsenfest überzeugt, dass es weiterhin funktionieren wird. Wenn Sie 25 Jahre ein Unternehmen aufbauen und davon über 20 Jahre mit denselben Mitarbeitenden zusammenarbeiten, dann fühlen Sie sich für sie verantwortlich. Ich glaube, das ist was ganz Normales und keine herausragende Eigenschaft. Dieses Unternehmen ist auch so entstanden und gewachsen durch die Unterstützung der Mitarbeitenden. Deshalb fühle ich mich ihnen auch verpflichtet.

Dr. Bauer, was würden Sie jemandem raten, der sich mit dem Gedanken trägt, sich in eine Praxis einzukaufen?

Als Erstes würde ich der Person empfehlen, sich über ihre persönlichen Wünsche und Ziele im Klaren zu sein und genau zu hinterfragen, was ihr wichtig ist. Es sollte nicht nur darum gehen, eine Praxis besonders günstig kaufen zu wollen. Das wäre m.E. der völlig falsche Ansatz. Vielmehr geht es darum, Vision und persönliche Ziele zu definieren und zu klären, ob ich beides mit einer Praxisübernahme erreichen kann. Will ich zum Beispiel generell viel Zeit in die Praxisarbeit investieren und auf einen Teil Privatleben verzichten? Bin ich bereit, für einen gewissen Zeitraum weniger zu verdienen als in einer angestellten Tätigkeit? Kann ich mit einer gewissen Unsicherheit umgehen, dass vielleicht Geschäft wegbrechen könnte? Wenn es an dieser Stelle schon einen Dissens gibt, wird das Unterfangen auf Sicht höchstwahrscheinlich schwierig. Selbst wenn die Übernahme zunächst gut zu funktionieren scheint. Früher oder später werden wahrscheinlich die persönlichen Ziele mit der Realität kollidieren.

Wenn es dazu kommt, eine konkrete Praxis ins Visier zu nehmen, folgt der nächste Reality-Check. Hier sollte geklärt werden, ob die Praxis zu mir passt und ich zur Praxis. Dazu gehört eine gehörige Portion Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Mitarbeitende zum Beispiel sind die Grundpfeiler des Erfolges einer Praxis. Wenn ich also feststelle, dass wir nicht zueinander passen, – aus welchen Gründen auch immer muss ich mir reflektiert die Frage stellen, woran es liegt. Bin ich das Problem? Oder die Mitarbeitenden? Hier ist auf jeden Fall die Fähigkeit gefragt, sich selbst kritisch hinterfragen zu können.

Wenn ich mich für die Übernahme entschieden habe, muss ich mit einem guten Selbstbewusstsein positiv in das neue Projekt hineingehen. Mit Begeisterung und vielen Ideen kann ich diesen positiven Spirit schnell auf die Mitarbeitenden übertragen. Eine offene und wertschätzende Kommunikation untereinander ist dabei das A und O. So wichtig der Kaufpreis auch ist, sehe ich diesen dennoch als zweitrangig an. Das Geld sollte niemals der Treiber sein. Das wird sehr wahrscheinlich nicht funktionieren.

In unserem Fall war ich zum Zeitpunkt der Übernahme noch als Angestellter im Unternehmen tätig. Ich wusste genau was auf mich zukommt und konnte mir ein viel detaillierteres Bild von der Praxis machen, als es üblicherweise der Fall ist. Ich kannte die Kolleg*innen bereits und auch Michael und ich konnten über einen längeren Zeitraum Erfahrungen im Umgang miteinander sammeln und lernen, wie der jeweils andere tickt. Es gibt wie gesagt große Übereinstimmungen hinsichtlich Charakters, Persönlichkeit und Zielvorstellungen, wohin sich die Praxis erfolgreich weiterentwickeln soll. Das hat den ganzen Prozess erheblich vereinfacht.

Solch eine Situation finden aber nicht alle Ärzt*innen vor. Das ist schon klar. Wenn es unterschiedliche Zielvorstellung gibt, kommt es schnell zu einer typischen Verhandlungssituation. In dem Fall ist eine starke und selbstsichere Persönlichkeit gefragt, die sich nicht davor scheut, ihre Interessen zu benennen und durchzusetzen. Als Selbstständiger gehört, verhandeln, diskutieren und sich für seinen Ideen einzusetzen quasi zur Basis-Ausrüstung, die immer wieder abgefragt wird.

Dr. Michael Sehling

Ich würde hier gern noch etwas ergänzen. Jan hat die verschiedenen Phasen der Bewusstseinsbildung, des Lern-Prozesses und den verschiedenen Perspektiven auf und in das Unternehmen sehr gut aufgezeigt. Gerade dieser Lernprozess ist für den Nachfolger von enormer Wichtigkeit. Ich musste mir damals alles selbst beibringen und meine Erfahrungen sammeln. Versuch und Irrtum, bei denen ich viel Schmerzensgeld gezahlt habe. So etwas lässt sich bei einer Übernahme natürlich begrenzen. Vor allem, wenn ich die Möglichkeit habe, die verschiedenen Perspektiven der Unternehmensführung bzw. des Unternehmens im Vorfeld kennenzulernen.

Welchen Unterschied macht die Neugründung einer Praxis versus Übernahme eines bereits funktionierenden Systems?

Wenn ich selbst eine Praxis gründe, muss mir klar sein, dass ich Kinderkrankheiten zu bewältigen und Schmerzensgeld zu bezahlen habe. Das wird alles auf mich zurollen. Egal, wie gut ich mich vorbereite. Bei einer Übernahme hingegen laufen die Prozesse bereits, das Team steht und Kunden gibt es ebenfalls. Hinzukommt, dass ich aus einem vorhandenen Erfahrungsschatz schöpfen kann.

Bei der Übernahme ist es sehr wichtig, dass ich zur Praxis passe und die Praxis zu mir. Wenn das tatsächlich der Fall ist und die Rahmenbedingungen stimmen, würde ich immer die Übernahme empfehlen. Mit Rahmenbedingungen, meine ich: Kann ich meine Lebensplanung mit der örtlichen Gegebenheit der Zielpraxis vereinbaren? Zieht meine Familie mit? Denn nicht jeder ist bereit, an ein völlig anderes Ende der Republik zu wechseln. Bei einer Übernahme kann ich viel Lebenszeit sparen, indem ich die vorhandene Struktur, den Kundenstamm und eingeführte Prozesse nutze. Ich kann mir Freiräume für strategische Aufgaben freihalten, da ich weniger Zeit für operative Tätigkeiten benötige.

„Bietet mir der Ort, in dem ich gerne leben möchte, keine zu mir passende Praxis, gibt es die Möglichkeit entweder abzuwarten oder tatsächlich eine Neugründung zu wagen.“

Bei einer Neugründung ist es wichtig sicherzustellen, dass ein gewisser Nukleus vorhanden ist. Ich sollte zu dem Zeitpunkt bereits einige Kunden akquiriert haben, um die wirtschaftliche Existenz nicht zu gefährden. Es reicht nicht aus, eine Praxis zu mieten, ein Schild anzubringen und darauf zu warten, dass die Kunden in Scharen an der Tür klingeln. Hinzukommen notwendige Investitionen wie Ausstattung, Miete und Marketing. Besser ist es, im Vorfeld die Kosten zu eruieren und sich einen validen Finanzierungsplan für die ersten Monate aufzustellen. Hier ein Tipp: einfach mal Kolleg*innen fragen, die den Prozess der Neugründung bereits durchlaufen haben. Allerdings sollte dieser nicht 25 Jahre zurückliegen.

Leider gibt es keine Gründer-Universität oder Gründer Schule für die Ärzt*innen. Der Verband (VDBW) bietet immer wieder Beratungsleistungen an. Hier gibt es die Sektion der Selbstständigen. Hier sollten sich Ärzt*innen, die sich für die Selbständigkeit interessieren, erkundigen und die Beratung in Anspruch nehmen.

Herzlichen Dank Ihnen beiden für das Interview!