Vom Schreibtischtäter zum internen Unternehmensberater – Arbeitsmediziner bei der Deutschen Post

Die Stellung des Arbeitsmediziners hat sich stark verändert. Das zeigt das Beispiel der Deutschen Post im Interview mit Christina Auerswald, Abteilungsleiterin Arbeitsmedizin & Gesundheitsschutz.

Zur Person:

Christina Auerswald ist Abteilungsleiterin Arbeitsmedizin & Gesundheitsschutz bei der Deutschen Post am Standort Bonn. Studium der Volkswirtschaft an der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale mit dem Abschluss als Diplom-Volkswirtin.

Frau Auerswald ist verheiratet, hat zwei Kinder und schreibt in ihrer Freizeit historische Romane.

 

Was sind die Besonderheiten im Bereich der Arbeitsmedizin bei der Deutschen Post?

Die Betriebsärzte werden zunehmend gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit dem operativen Management in strategische Themen eingebunden. Sie arbeiten konzeptionell und strategisch, unter anderem an den Themen „Stressmanagement“ oder „Gesunde Mitarbeiterführung – ein wichtiger Aspekt der Unternehmenskultur“. Insbesondere im mittleren Management, für die sog. Sandwich-Manager, besteht z.B. ein hoher Coachingbedarf.

Jeder Betrieb bei uns hat eine höchst modern ausgestattete Praxis. Dort arbeiten, je nach Größe, 1-7 Ärzte. Die Ärzte haben teilweise ganz unterschiedliche Erfahrungen und kommen aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Sie verfügen über große Gestaltungsspielräume und wirken ein auf

a) die Beschäftigten, b) die Arbeitsverhältnisse – Ausstattung Arbeitsplätze / Arbeitsplatzgestaltung und Arbeitsmittel und c) die Unternehmenskultur und Arbeitsklima.

Dabei arbeiten sie sehr eigenständig. Zwar gelten für sie grundsätzlich die vom Konzern vorgegebenen Spielregeln. Allerdings gibt es auch immer wieder betriebsindividuelle Ansätze zu berücksichtigen, wie beispielsweise unterschiedliche, regionale Gegebenheiten vor Ort.

Unsere Ärzte beraten und betreuen das Management, die Mitarbeiter und das Unternehmen.

 

Wie hat sich in den vergangenen Jahren der Stellenwert Ihrer Abteilung im Konzern verändert und wie ist dieser Bereich organisiert?

Wir sind eine eigenständig organisierte Einheit. Unsere Betriebsärzte fungieren in den einzelnen Betrieben als neutraler Berater. Der Niederlassungsleiter ist dem Betriebsarzt gegenüber nicht weisungsberechtigt.

Räumlich sind die Betriebsärzte dezentral in der Nähe der Betriebe angesiedelt. Dort arbeiten sie stark im operativen Feld und sind in den Gremien „Arbeitsschutzausschuss“ und „Arbeitskreis Gesundheit“ vertreten.

Direkt in der Zentrale „sitzt“ der Leitende Arbeitsmediziner, der sich unter anderem mit strategischen Themen, die den gesamten Konzern betreffen, beschäftigt. Z.B. welche Maßnahmen sollen dem Konzern als Schlussfolgerung aus den vorliegenden statistischen Daten empfohlen werden oder welche Vorsorgemaßnahmen müssen ergriffen werden, wenn in China die Vogelgrippe ausbricht.

 

Sie sind seit 16 Jahren dabei. Welche Strategien verfolgte die Post in dieser Zeit?

In den Jahren 2000-2005 bestimmten Sparmaßnahmen die Schließung von Praxen und Personalabbau. Es herrschte Einstellungsstopp und der interne Personalstand der Betriebsärzte rutschte auf ein Minimum. 2010 wurde, mit weniger als 50 Ärzten im ganzen Konzern, der niedrigste Personalstand im Bereich Arbeitsmedizin verzeichnet. (Im Vergleich dazu: 2016 sind allein in Deutschland über 90 Ärzte beschäftigt.)

Damals begann man also diesen Bereich an überbetriebliche Dienstleister out zu sourcen.

Allerdings wurde schnell erkannt, dass diese Strategie nicht aufging. Die Qualitätsstandards konnten nicht gehalten werden. Das Bewertungsergebnis der Kundenbefragung ergab eindeutige Aussagen: „intern gut – extern nicht gut genug“.

In erster Linie war diese relativ negative Bewertung der externen Ärzte struktureller Natur. Der überbetriebliche Arbeitsmediziner konnte nicht immer vor Ort sein. Hinzu kam, dass sein Zeit-Kontingent pro Kunde eingeschränkt war. Er hatte viele unterschiedliche Branchen und Kunden zu betreuen, so dass er nie  so tief in die einzelne Materie einsteigen konnte, wie er es gern getan hätte!

2012 wurde zudem das neue Gesetz „DGVU2 – Vorschriften und Regeln für Betriebsärzte, Arbeitsmediziner und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ eingeführt. Seitdem gilt viel stärker als bisher: Weg von der einfachen Vorsorgeuntersuchung – hin zum Gesundheitsmanagement und Gefährdungsbeurteilung

Im Zeitraum von 2012 bis 2016 wurde das Outsourcing komplett zurückgefahren. Im Gegenzug entstanden sogar 20 neue Praxen – so dass die gesamte Praxen-Zahl bundesweit auf insgesamt 36 angestiegen ist.

 

Wie viele Ärzte sind bei Ihnen beschäftigt?

Aktuell sind 91 Ärzte bei der Post beschäftigt – in Deutschland

 

Welche besonderen Herausforderungen stellt speziell die Deutsche Post an den Bereich Arbeitsmedizin“?

Der Arbeitsmediziner muss über medizinische Kenntnisse hinaus auch über Kenntnisse basierend auf Untersuchungen anderen Rechtsgrundlagen verfügen, wie z.B. Begutachtung, Fahrerlaubnisverordnung, betriebliche Normen als Grundlagen, wie Untersuchung nach Beamtenrecht. Wichtig hierbei ist auch, dass der Arbeitsmediziner immer eine ganz neutrale Rolle einnimmt und von außen auf das Thema schaut.

Die Deutsche Post AG ist ein Flächenunternehmen mit einer dezentralen Betriebsstruktur. Berücksichtigt werden müssen etwa 200.000 Mitarbeiter/Innen, die sich örtlich und zeitlich „quer durch die Botanik“ befinden. Das erfordert eine flexible Handhabung und Arbeitsweise. Sehr hilfreich und unterstützend wirkt dabei unsere klare Konzernbetriebsvereinbarung, die eindeutige Regeln und Prozesse vorgibt. So gibt es z.B. in jedem Betrieb einen „Arbeitskreis Gesundheit“, in dem Arbeitsmediziner fester Bestandteil des Teams sind.

Die einseitige, stets wiederkehrende Tätigkeit, die bei uns von sehr vielen Menschen ausgeführt wird, ruft naturgemäß eine einseitige Belastung hervor. Sprich, die Bandbreite der einzelnen Aufgaben ist mit etwa 40 unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen im Vergleich zu anderen großen Konzernen relativ klein. Die Struktur ist überschaubar.

Wir gehören zu einem Unternehmen, das aufgrund von Tarifverträgen eine hohe Beschäftigungssicherheit bietet. Nach 45 Jahren im Unternehmen ist man quasi unkündbar“. Die Beschäftigungsfähigkeit soll aber natürlich auch mit 60+ erhalten bleiben, was bei der oftmals hohen körperlichen Belastung der Mitarbeiter nicht immer einfach ist. Mehrfach täglich ein Paket von 31,5 kg zu tragen ist einseitig und im Alter nicht mehr so einfach zu tragen. Das ist bei uns ein sehr wichtiges Thema.

 

Arbeitsmediziner müssen im Gegensatz zu Medizinern in Klinik und Praxis verschiedenen Rollen im Unternehmen einnehmen. Welche Eigenschaften sollten die Ärzte für die jeweilige Rolle mitbringen?

Für den Arbeitsmediziner ist es ganz wichtig, zu verstehen dass er beispielsweise als Unternehmensberater mit dem Spezialgebiet Arbeitsmedizin agiert. Er arbeitet im Betrieb gemeinsam mit dem Management auf Augenhöhe zusammen und ist beratend tätig.

Dafür muss der Betriebsarzt den Betrieb gut kennen, so dass er mit den Managern auch auf Augenhöhe kommunizieren kann. Konkret bedeutet das, mit allen Abläufen, technischen Prozessen und den Aufgaben vertraut zu sein. Wo liegen die Probleme? Welche Auswirkungen haben die Prozesse, Führung und Aufgaben auf den einzelnen Mitarbeiter. Was sind die konkreten Probleme und betriebsspezifischen Anforderungen im Bereich Prävention? In welchen Feldern müssen wir etwas tun?

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist, dass er sich mit  betriebswirtschaftlichen Kennzahlen auskennt und die Zielvereinbarungen des Managers begreift. Ihm muss klar sein, wie der Manager tickt. Wichtig ist, dass seine präventiven Maßnahmen auf das Soll – Ergebnis des Managers einzahlt.

Dabei sitzt er in der Regel zwischen allen Stühlen, er muss unbequeme Themen ansprechen, wie z.B. die mögliche Erkenntnis, dass der Führungsstil des Managers seinen Mitarbeitern gegenüber Krankheiten verursacht. Es kann sein, dass er für den Einsatz bestimmter Arbeitsmittel oder Verfahren kritische Hinweise geben muss.

Der Betriebsarzt muss neutral handeln und sollte weder emotional noch empathisch reagieren. Das sind für ihn häufig sehr schwierige Situationen und er muss dann kreative Lösungen finden.

Der Leidensdruck des Managers, empfohlenen Optimierungsmaßnahmen zuzustimmen, ist natürlich ökonomischer Natur. Z.B. ist der Krankenstand ein sehr wichtiges Thema. Personalausfälle aufgrund von Krankheiten sind sehr (!!) teuer.

Den Krankenstand zu reduzieren gehört zu den Führungsaufgaben der Manager. Hier hat sich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. Der Manager von heute zeigt ein vielfach größeres Verständnis für den Zusammenhang von Führungsweise des Personals und den Krankheitsquoten, als noch vor einigen Jahren. Der Generationswechsel macht sich hier bereits bemerkbar. 

Die Arbeitsmediziner finden immer mehr Gehör beim Management. Umso wichtiger ist es, dass die Arbeitsmediziner ihre Themen gut beim Management platzieren können. Dafür benötigen sie Kommunikationsstärke und soft skills.

Der Konzern Deutsche Post DHL Group entwickelt seine Betriebsärzte in diesem Bereich stetig weiter.

 

Warum wechselt Ihrer Meinung nach ein Mediziner aus Klinik oder Praxis in die den Bereich Arbeitsmedizin?

Wesentliche Antreiber sind:

  1. Suche nach neuen Herausforderungen
  2. Work-Life Balance: 40 Stundenwoche, freie Wochenenden und i.d.R. keine Nachtdienste sowie kaum abweichende Arbeitszeiten
  3. Vernünftiges Bezahlsystem / Firmenwagen
  4. Sehr gut und modern ausgestattete Praxen mit neuen Geräten
  5. Speziell für die Post gilt:
    1. Onboarding Verfahren seit 2013. Jeder Betriebsarzt muss zu Beginn seiner Tätigkeit, sämtliche wesentliche Arbeitsprozesse mitmachen und durchlaufen. So geht er z.B. mit dem Zusteller mit und verteilt die Post oder begleitet Kollegen im Luftfrachtzentrum. Es ist sehr wichtig, dass der Betriebsarzt versteht, welche Aufgaben und Herausforderungen seine Kunden zu bewältigen haben.
    2. Ausgewogenheit zwischen Tätigkeit im Betrieb und in der Praxis.
    3. Jeder betreut seinen eigenen Betrieb, es besteht eine große Nähe zum jeweiligen Betrieb.
    4. Gute Informations- und Kommunikationspolitik
    5. Gute Einarbeitung, modernes Netzwerken
    6. Regelmäßige Fortbildungen

  

Wie sehen Sie die Zukunft – insbesondere beim Thema Akzeptanz und Stellenwert bei den Medizinern?

Das aus den 70er Jahren stammende, etwas verstaubte Image des Schreibtischtäters, der sich vornehmlich mit dem Ausfüllen von Formularen beschäftigt oder auch mal das Herz abhört, verändert sich leider nur schleppend. Obwohl sich das reale Aufgabenfeld mittlerweile stark verändert hat. Auch bei uns im Konzern ist viel passiert. Das Thema ist heute deutlich komplexer. Strategische Themen, wie Führungskompetenzen, eine langfristige Ausrichtung auf ein gesundes Unternehmensklima, die gesundheitsgerechte Gestaltung von Arbeitsmitteln von Beginn der Entwicklung an spielen eine große Rolle.

 

Vielen Dank für das Interview!